Trauriges GesichtUm etwas analytisch betrachten zu können, zerlegt der Mensch komplexe Sachverhalte wie Abläufe oder Mechanismen in ihre kleineren Bestandteile. Diese Einzelteile, die das Denken erfassen können, bilden aber nie die tatsächliche Gesamtheit des Geschehens ab. So verzerren sie die Realität, indem sie Einzelteile zeigen, deren Zusammenhänge in dieser separierten Form nicht unbedingt zu verstehen sind.

Als Beispiel dafür mag der Vorgang des Zeichnens dienen. Angenommen es entsteht etwas im Künstler, das ihn dazu bringt, den Stift in die Hand zu nehmen und zu zeichnen. Sofern es keine zielgerichtete Absicht a la „Ich zeichne jetzt einen Elefanten“ ist oder der Zeichner etwas abzeichnet, etwa ein Gesicht von einem Foto oder eine reale Blumenvase als Vorlage für die Zeichnung oder er sogar einen Auftrag hat, bringt er etwas aufs Papier, das aus ihm heraus entsteht.

Kunst als Ausdrucksform

Die Zeichnung kann ein motivisches Ritual sein, also etwas, das er täglich oder oft zeichnet. Das Zeichnen kann Teil einer inneren Versenkung sein, eine Art Meditation. Die Zeichnung könnte aber auch die in Form gegossene Manifestation eines Gefühls oder Gedankens sein, auch von etwas, das zwischen Fühlen und Denken liegt oder etwas, das sich begrifflich nicht fassen lässt. So könnte es sein, dass der Mensch einen inneren Sinn dafür hat, sich auszudrücken. Dieser Ausdruck des Selbst könnte etwa verbal oder zeichnerisch, malerisch oder handwerklich erfolgen. Das Zeichnen könnte eine Art meditativen Ausdrucks sein, eine Versenkung in das eigene Selbst.

Kunst als Selbstfindung

Sofern es das Selbst in der Form gäbe. Denn die neuere Hirnforschung geht zum Teil davon aus, dass das Ich eine Projektion ist. Gerade ein solches Modell eines virtuellen Ichs jedoch verlangt nach einer ständigen Vergewisserung von außen und von innen, um ein Selbstbild bilden zu können. Kunst könnte die Suche nach dem eigenen Ich sein, das nicht existiert – eine Art Ich-Definitionsprozess, der nie beendet ist, weil etwas, das nicht existiert, nicht letztlich oder überhaupt auffindbar ist. Auf der Suche nach dem Ich stellt sich als Platzhalter für das mögliche Selbst ein Ich-Gefühl ein, ein Gefühl jemand zu sein, zu existieren, in der Lebenswirklichkeit Wichtigkeit und Relevanz zu besitzen.

Nicht-Stofflichkeit des Zeichenprozesses

All dies wäre ein Prozess, der im Menschen entsteht. Man könnte ihn oberflächlich als einen nicht-stofflichen Ablauf auffassen. Denn auch wenn biochemisch verursachte elektrische Impulse Teil des Prozesses sind, die also materiellen Ursprungs sind, wäre das Ergebnis dieses Prozesses als individueller Impuls nicht-stofflich, etwa die Vorstellung eines Motives, das man zu Papier bringen will. Dies wäre zwar beschreibbar, für den Aussenstehenden aber nur schwer greifbar bzw. nicht erlebbar – in jedem Fall aber nur schwer nachvollziehbar. Dies wäre der eine Teil des Gesamtvorgangs des Zeichnens. Ihn könnte man analog zum Programmablauf in einem Computer ansehen. Das, was im Künstler abliefe, wäre einer Software vergleichbar: ein inmaterieller Prozess, der Inhalte abbildet.

Die menschliche Hand als Hardware

Der zweite Teil wäre der Vorgang des Zeichnens selbst über die Motorik der materiellen Hand. Dabei würde das, was im Inneren des Menschen abläuft über Nervenimpulse auf die den Stift, die Zeichenfeder oder den Pinsel haltende Hand übertragen und zu Papier gebracht werden. Physisch-biologisch müsste die Hand über bestimmte motorische Fähigkeiten verfügen. Wäre die Hand in der Lage, feinmotorisch zu wirken, würde sie komplizierte Strichensembles zeichnen können, die für einen Grobmotoriker viel schwieriger, aufwändiger oder gar nicht zu realisieren wären. Diesen zweiten Teil des Gesamtablaufes des Zeichnens könnte man mit der Computer-Hardware vergleichen, etwa mit einem Drucker, den man an einen Computer angeschlossen hat, und darüber eine Zeichnung, die man per Software auf einem Bildschirm erstellt hat, ausdruckt.

Synthese von Geist und Körper

Der Gesamtablauf des Zeichnens wäre also eine Synthese zwischen Software und Hardware, zwischen

  • geistiger Leistung und
  • körperlich-materieller motorischer Fertigkeit.

Dabei haben die Fähigkeiten der Hand, also ob grobmotorisch oder feinmotorisch, ebenso einen Einfluss auf das zeichnerische Ergebnis wie die Software, also die Informationsverarbeitung im Gehirn, der Grad der Kreativität und andere spezifische Fähigkeiten und Gegebenheiten. Wollte man Software und Hardware voneinander trennen, könnte man zum Beispiel folgendes Bild entwerfen:

Kunst als Software

Kunst entsteht durch einen rein softwaremäßigen Prozess der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung gekoppelt mit einem Drang, einer innere Vision bzw. einem Gefühl, das danach drängt, Gestalt anzunehmen. Es kann sich etwa in dem Ehrgeiz ausdrücken, etwas zum Beispiel entweder photorealistisch oder abstrakt-kubistisch darzustellen. Im ersten Fall geht es darum, den Betrachtungsgegenstand möglichst genau zu erfassen und in seiner sichtbaren Realität abzubilden. Im zweiten Fall kann es darum gehen, abzubilden, welche Prinzipien oder Konstruktionsparameter in einer Gestalt realisiert sind. Eine weitere Möglichkeit einer impressionistischen Sichtweise wäre es, nur zu malen, was man fühlt und empfindet. Dies kann umso weniger gegenständlich sein, inwiefern man nicht Empfindungen visualisiert, die man beim Betrachten einer Landschaft oder eines Gegenstandes hat, sondern Gefühlen in Bezug auf einen inneren Zustand eine äußere Form verleiht.

Kunst als Hardware

Eine andere Betrachtung könnte so aussehen, dass man Empfindungen oder innere Prozesse als gegeben annimmt und danach nur betrachtet, wie geschult die Hand ist bzw. welche Bedürfnisse die Hand hat. Man kann annehmen, dass z.B. die Muskulatur, die ein Sportler aufgebaut hat, danach verlangt, weiter genutzt und trainiert zu werden. Der Körper hat ein Verlangen danach, sich weiteren Herausforderungen zu stellen. So wie das sogenannte „Appetenzverhalten“ die Suche nach auslösenden Reizen ist, haben Körper, Nerven und Muskulatur, den natürlichen Drang, genutzt und geschult zu weren und etwas zu spüren. Ein Feinmotoriker würde seine manuellen Fähigkeiten also dazu nutzen, etwa mit einem dünnen Stift eine filigranere Strichtechnik als vorher auszuprobieren und neue technische Fertigkeiten zu erreichen, und das schwerpunktmässig hardwareseitig. Ein solcher Künstler könnte rein technisch hervorragend sein, ohne etwa ausdrucksstark zu sein oder überhaupt etwas zu sagen zu haben. Denn auch die Inhalte wären softwaremäßig angelegt. Aber schon bei der Vehemenz oder Zartheit des Ausdrucks wäre die Frage, ob nicht auch schon die Bechaffenheit der physiologisch fundierten Motorik dazu in der Lage wäre, etwa impressionistisch oder expressionistisch zu zeichnen.

Motorik und geistige Bedingungen

Diese beiden Sichtweisen verbinden sich zu einem Gefüge, bei dem innerer Antrieb und Vision mit den körperlichen Möglichkeiten der Motorik korrespondieren. Die Trennung nach Hard- und Software ist akademisch und beschreibt in ihrer jeweils singulären Betrachtungsweise nicht im Ansatz den Mechanismus, der eine ständige Impuls-Rückkopplung mit einschließt. Man könnte sagen, dass im besten Fall die manuellen Möglichkeiten mit den inneren Befindlichkeiten und Motivationen korrespondieren und dass diese Kommunikation wiederum ein virtuelles Miteinander erzeugt, das die Spezifik der geschaffenen Kunst ausmacht. Dies ist jedoch ein anderer Prozess als ein digitaler, der auf „Entweder/Oder“ beruht und seine Stärken bei Eindeutigkeit freisetzt.