koerperlosKunst kann einfach oder komplex sein. Das betrifft sowohl die Form als auch die Inhalte. Was ist der Unterschied zwischen Einfachheit und Komplexität? Was hätte man als Künstler*in zu beachten, schüfe man – je nachdem – einfache oder komplexe Kunst?

Kompliziertheit kann vereinfacht werden. Etwas Kompliziertes kann in seine Faktoren zerlegt werden, wenn es linear und durchschaubar ist. Ursache und Wirkung sind dann klar zu benennen und können in eine geteilte Reihenfolge gebracht werden. Komplexität ist vielschichtig, wobei die verschiedenen Ebenen sich aufeinander beziehen. Es geht hier um unkontrollierbare oder schwer zu durchschauende Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Schnell spricht man im Zusammenhang mit großer Komplexität auch von Emergenz, bei der sich das emergente System aus sich selbst heraus organisieren kann bzw. Eigenschaften ausbildet.

Amedeo Modigliano als Vereinfacher

Amedeo Modigliano (1884-1920) gilt als einer der Wegbereiter der Moderne in der Malerei als extremer Formen-Vereinfacher. Berühmt geworden sind seine Portraits, die den Menschen formal vereinfachen und eher das Typische der Formen in den Vordergrund der Betrachtung rücken als die Person in allen ihren Details. Wo das einzelne seiner Bilder also revolutionär einfach war, könnte sich in der Gesamtschau seines Werkes bezogen auf das Menschenbild, das er vermittelt, Komplexität ergeben als ein Zusammenhang innerhalb seines Oeuvres.

Einfache Oberfläche, komplexe Tiefe

Modigliani hat sich auf das Wesentliche konzentriert, er hat also abstrahiert, indem er vieles, was er theoretisch auch hätte darstellen können, weggelassen hat. Bei dieser methodischen Sichtweise herausgekommen ist nicht die Abbildung des Menschen sondern mehr als das das Konzept vom Menschsein. Überhaupt ist der Unterschied etwa zwischen klassischer Malerei und moderner Malerei, dass der Anspruch der möglichst realistischen Darstellungsweise zugunsten eines Abstraktions-Anspruches oder einer Darstellungsform, die als Ziel nicht mehr hat, realistisch anmutende Oberflächen zu zeigen, fallen gelassen wurde. Die Innenwelten des Wahrnehmenden oder die vermeintlichen Innenwelten der Gesellschaft sind nun das Thema. Anstatt einer Vereinbarung darüber, wie die Welt zu sein hat, ist eine unüberschaubare Anzahl an Wahrnehmungen ohne Absolutheitsanspruch getreten – Individualismus pur.

Wahrnehmbarkeit und Unsichtbarkeit

Die Oberflächen der sichtbaren Welt mit ihren vielen Details weichen dem, das mutmaßlich darunter liegen mag: den Strukturen und Konzepten, dem Übergreifenden und dem unsichtbar Komplexen, in Konkurrenz zur Einfachheit der Oberfläche. All das schließt das Tabuisierte, das Verbotene, das Nicht-sichtbar-sein-sollende mit ein. Je schwerer etwas im Leben anhand des Einzelfalls übergeordnet wahrnehmbar ist, desto mehr spielt diese Kunst ihre Stärken aus.

Die Spannung des Ausschnitts

So verkehrt sich wieder das Oberflächliche oder Einfache ins Tiefgründige und Komplexe. Wer vereinfacht und damit etwas weglässt, konzentriert sich und betont, was er in den Mittelpunkt seiner Sichtweise rückt. Er zeigt lediglich einen Ausschnitt, um den Blick auf das Wesentliche zu lenken. Diese Herangehensweise mag man kritisieren: wie kann das Wesentliche gezeigt werden, wenn es unvollständig ist? Wäre das so Gezeigte nicht einfach nur das Wesentliche eines Ausschnitts und nicht etwa des Gesamten? Dabei mag es nicht nur auf das Kunstwerk sondern auch auf den Kontext einer atmosphärisch aktuell vorhandenen Fragestellung gehen sowie um das Wahrnehmungs-Geschick und die Sensibilität des die Kunst Wahrnehmenden.

Die Spannungslosigkeit der Vollständigkeit

Umgekehrt, hätten Künstler*innen den Anspruch, alles zu zeigen, was sie an einem Motiv interessiert und würde man das Motiv in seinen Details möglichst vollständig zeigen, was würde der Betrachter sehen? Würde er dieses umfassende „Alles“ wahrnehmen können, wenn die zahlreichen Details des Darstellungs-Realismus alles Dargestellte als gleichwertig und gleich wichtig zeigen würden? Drücken sich Künstler*innen, die diesen Anspruch haben, der möglichst nichts weglässt, am Ende sogar um eine unmissverständliche Aussage? Ist das ein Mangel an Entscheidungsfreude, an einem klarem Bekenntnis und an einer eindeutigen Position? Unterschiedliche Epochen geben verschiedene Antworten auf diese Fragen. Je weiter Künstler*innen wie auch Wahrnehmende fortgeschritten sind und ihr Auge geschult haben, desto offener und unvollständiger kann eine künstlerische Aussage sein. Aus relevanten Teilstücken oder Bruchstücken bestehende Kunst kann die Idee der Vollständigkeit besser transportieren als die tatsächlich dargestellte Vollständigkeit. Die richtig angedeutete Unsichtbarkeit kann mehr offenbaren und zu Tage treten lassen als die vollständige Sichtbarkeit.