StreamerDas Bewegtbild-Medium der Stunde ist neben der Social-Media-Story die Streaming-Serie und nicht etwa der gestreamte Film. Zwar wurde im Verlauf der Pandemie (ab 11. März 2020 bis heute, 2022) mit ihren geschlossenen Kinos vermehrt darüber diskutiert, ob das Kino nun am Ende sei und „Video-on-Demand“-Dienste es als Abspielstätte großer Filme beerben könnten. Doch das eigentliche Zugpferd für die lange Verweildauer auf den Streaming-Plattformen ist die Serie.

Wir wollen unsererseits in einer Artikel-Serie über die besten Serien darüber nachdenken, was die herausragenden Eigenschaften einer Serie sind, wo ihre Chancen und Möglichkeiten liegen. Dabei sind Serien als Medien-Pandemie auch eine Art Seelen-Seuche, deren Symptom geistige Abwesenheit durch langanhaltende Langeweile ist.

Binge-Watching als Endlos-Bewegtbild-Sucht

Die Streaming-Serie auf dem Fernseher als kleinem Popkultur-Bullauge ist das Medium der Stunde. Dabei muss man sich fragen, warum die meisten Serien nur in die Breite gehen anstatt in die Tiefe. Doch das trifft es nicht ganz. Denn die wenigsten Zuschauer wollen Serien gucken, um Tiefgang zu genießen. Es geht meist eher um eine Art Endlosschleifen-Berieselung. Wo beim Film die Kunst in der Verknappung liegt, also in einer kompakten Darstellungsweise, stellt sich bei den Serien die Frage, wie weit sie mit ihrer Nudelholz-Mentalität kommen, die ihren Serien-Teig ständig maximal breit auswalzt.

Epik oder The Last Long and Winding Waltz?

Alte Serienformate der 1950er- bis 1970er-Jahre liefen eher wie eine Aneinanderreihung von kleinen Einzelfilmen ab. Jede Folge war eine in sich abgeschlossene Geschichte. Zwar hatte man es auch mal mehrfach mit demselben Gegenspieler zu tun, wodurch sich ein roter Faden ergeben konnte, oder es gab einen Zweiteiler als Doppelfolge, aber alles in allem war das erzählerische Können auf die einzelne Folge konzentriert. Nicht auf ein Narrativ, das sich über alle Folgen erstreckt. Heute wird die Staffel einer Serie in ihrer Gesamtheit oft wie ein einziger in Episoden zergliederter Film gehandhabt. Über eine Staffel hinweg – manchmal auch über mehrere oder alle Staffeln verlaufend – wird ein großer erzählerischer Bogen gespannt. Die einzelne Folge transportiert den Fortgang dieser großen Erzählung. Fast nebenbei beherbergt sie in sich einen dramatischen Höhepunkt, um das Publikum bei Laune zu halten. Aber das eigentliche Ziel ist es, einen visuellen Entwicklungsroman zu offerieren, der eine Welt abbildet, in der man sich bald wiederkehrend verliert. Das kann theoretisch interessant sein oder aber langatmig.

Breaking Bad als weltabbildende Stunde

Über die Staffeln hinweg werden da Charaktere in ihrem Veränderungsprozess gezeigt, Handlungsstränge in Zeitsprüngen collagiert, hergeleitet und aufgearbeitet, mitunter auch zusammenhängende Sozialstrukturen dargeboten. Eine Serie wie „Breaking Bad“ etwa schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, alle wesentlichen Aspekte der Droge Methamphetamin zu zeigen: Produktion, Handel, menschliches Schicksal. Angefangen bei der kleinen Dealergemeinschaft auf der Straße bis hin zum internationalen Konzern, der unter dem Deckmantel der Legalität mit der Handelsware „Meth“ Profit erwirtschaftet. So zeigt die Serie ein breit angelegtes Panorama. Im Fall von „Breaking Bad“ ist das gekoppelt mit Überraschung und Tiefgang, die meisten anderen Serien kommen aber erzählerisch nicht auf den Punkt. Sie verausgaben sich in Nebenkriegsschauplätzen und lassen die Essenz der Geschichte im Detailreichtum des Nichtssagenden untergehen.

Marvels Cinematic Universe (MCU)

Großmeister einer übergreifenden, Fluchtwelt-erschaffenden Strategie ist Disney mit seinem Marvel-Franchise. Bei dem werden standardmäßig Bezüge zu anderen Serien und Filmen hergestellt. Ein paar Beispiele:

  • Manches im Film „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ (2022) ist nur zu verstehen, wenn man vorher die Serie „WandaVision“ (2021) gesehen hat. Denn hier wie dort spielt die Figur „Wanda Maximoff“/“Scarlet Witch“ eine tragende Rolle.
  • Zudem gibt es einen Bezug der Figur „Monica Rambeau“ aus „WandaVision“ zum Film „The Marvels“, der im nächsten Jahr in die Kinos kommen soll.
  • Der Kinofilm „The Marvels“ (2023) ist die Fortsetzung des Films „Captain Marvel“ (2019), der wiederum in der Serie „Ms. Marvel“ (2022) weitererzählt wird.
  • Die Figur der Agnes/Agatha Harkness aus „WandaVision“ erhält eine eigene Serie, die „Agatha: House of Harkness“ heißen soll. Wobei Agatha Harkness ursprünglich aus den Comic-Abenteuern der „Fantastic Four“ stammt.

The never Ending Streaming-Story

Wenn man sich in der bunten Marvel-Welt also auskennen soll, muss man ewig weitergucken. Früher dienten Serien der Zuschauerbindung, um Werbegelder einzufahren, heute erhöhen Serien mit ihrer längeren Verweildauer die Bindung an die Streaming-Plattform oder den Fernsehsender und garantieren die Abogebühr. Die komplexen personellen und inhaltlichen Verschränkungen zwischen Film und Serie bzw. zwischen Serie und Serie machen zwar alles unübersichtlicher, schaffen aber für den Zuschauer einen Anreiz, seine Augen nie wieder zu schließen.

Comic-Narrative und Film-Narrative

Die Marvel-Comics zelebrierten bereits in den 1960er-Jahren den Cameo-Auftritt eines Superhelden im Heft des anderen. So wurde ein Fan des „gewaltigen Hulk“ fast schon gezwungen, auch die entsprechenden Hefte der „Fantastischen Vier“ oder der „Avengers“/“Rächer“ zu kaufen. Weiter ging es, indem bestimmte Zusammenhänge der Story des einen Superhelden erst vollständig zu verstehen waren, wenn man die Handlung in anderen Comics kannte. Die ursprünglichen Comics enthielten sogar mit Sternchen versehene Hinweise als Eigenwerbung für weitere Heft-Serien. Schließlich gab und gibt es im Marvel-Comic-Universum übergreifende Themen, die „Events“, die sich über mehrere oder alle wesentlichen Superhelden-Heftserien erstrecken. Das also waren die vernetzten Narrative der Comics als Vorgänger der Filme, die nun das neue Milliardengeschäft im Medien-Zirkus sind. Doch Trivialwelt-erschaffend festigen erst die Serien die Zuschauer-/Medien-Bindung nachhaltig. Zumal eine Serie über einen langen Zeitraum veröffentlicht und rezipiert wird, während der Film ein seltenes Großereignis ist.

Film-Streamen als neues Geschäftsmodell

Dass es im Laufe der Jahre in Amerika immer mehr Serien gab, hat als Grund zunächst, dass Fernseh-Werbespots ein Umfeld brauchten. (Wie das vonstattenging, ist übrigens schön anschaulich in der Werbeagentur-Serie „Mad Men“ zu sehen.) Ihren Anfang nahm die Serien-Flut mit dem Aufkommen der Bezahlsender, wie das hier etwa Sky Deutschland wurde, das zum Beispiel im Jahr 2017 fünf Millionen Abonnenten zählen konnte.
Das Bezahlfernsehen startete in Amerika zaghaft in den 1960er-Jahren und erreichte einen Höhepunkt in den 1980er-Jahren, sowohl in Amerika als auch in Frankreich. In Deutschland tat sich das Bezahlfernsehen hingegen schwerer. Aber Pay-TV hat durch das Internet und das Online-Streamen Aufwind bekommen – während die alten Sender-Modelle bröckeln, wie man an der nachfolgenden Entwicklung des klassischen Bezahl-Fernsehens sehen kann:

  • 1988: 30% der Haushalte in Nord-Amerika verfügten Anfang 1988 über klassisches Pay-TV per Rundfunk-Ausstrahlung
  • 2010: 90% aller Haushalte = 116 Millionen zahlende Kunden in USA und Kanada.
  • 2026: 53% der Haushalte = 74 Millionen Bezahl-TV-Kunden (Schätzung)

Erfolgsgeschichten der großen Streamer

Die amerikanische Fernsehlandschaft war in der Vergangenheit kleinteiliger organisiert mit hunderten von Sendern. Die Inhalte lieferten aber im Wesentlichen nur fünf kommerzielle Privat-Sender und ein öffentlicher nicht-kommerzieller: Die privatwirtschaftlichen Sender sind NBC, CBS, ABC, FOX und The CW (von CBS/Time Warner) sowie das öffentliche „Public Broadcasting Network“ PBS. Sie haben den Löwenanteil an Serien in den USA bzw. dem englischsprachigen Raum produziert. Insgesamt waren das:

  • 2019: 532 Serien
  • 2020: 493 Serien
  • 2021: 559 Serien

Vor allem Netflix und Amazon Prime haben immer mehr Kunden angezogen, inzwischen dicht gefolgt von Disney+, das mit einer marktbeherrschenden Film-Palette mit seinen Zeichentrick- und Real-Filmen sowie den Marken „StarWars“, „Marvel“ und „Pixar“ punkten kann. Netflix ist 1997 als Video-Verleih gegründet worden. Die Bestellung erfolgte online, der Versand von DVDs und Blu-rays per Post. 10 Jahre später fing Netflix mit dem Online-Streaming per Video-on-Demand an und damit früher als die Konkurrenz.

Nutzerzahlen der Streaming-Dienste

Erst also war es der Hunger der konkurrierenden Networks, nun ist es der Hunger der Streamingdienste. Ein Milliardengeschäft verlagert sich von klassischen Sendeformen des linearen Fernsehens hin zu der digitalen Verbreitungsform des „Video on Demand“ (VoD). Die Zahlen sprechen für sich:

  • Netflix: 221 Millionen Abonnenten (Stand 2022)
  • Amazon Prime: 150 Millionen Abos (Stand 2020) mit seinem Onlinevideo-Angebot ab 2014
  • Disney+: 130 Millionen Abonnenten (Stand 2022), Start 2019
  • HBO/HBO Max: 76,8 Millionen Abonnenten international. In Amerika ist HBO Max ein wichtiger Netflix-Konkurrent (Stand: März 2022)
  • Wow: 23 Millionen Abonnenten von Sky-PayTV insgesamt (Stand 2021), Sky hat seinen Streamingdienst „Sky Ticket“ im Juni 2022 in „Wow“ umbenannt
  • YouTube-Premium: 20 Millionen Abonnenten (Stand 2020), bei dem Film- und Musikstreaming aufeinandertreffen und mit den „Originals“ auch eigene Formate geboten werden
  • Apple TV+: 20 Millionen Abonnenten, geschätzt (Stand 2020)
  • Hulu: 39 Millionen Abonnenten (Stand 2021)
  • Paramount+: 36 Millionen Abonnenten (Stand 2021)
  • Zattoo: 3 Millionen Abonnenten (Stand 2021), Schweiz, Deutschland, USA
  • waipu.tv: 2 Millionen Abonnenten (Stand 2019), ein Streaming-Dienst aus Deutschland.

Übrigens: von 2020 auf 2021 stieg die Nutzung der öffentlich-rechtlichen Mediatheken von ARD und ZDF in Deutschland von 29,5% auf 35,5% Marktanteil – auch eine Erfolgsgeschichte.

Serien-Glück und Medien-Öffentlichkeit

Apropos „Erfolgsgeschichten“: Serien, die Kultstatus erlangen, werten ihre Plattform auf. Solche Serien heißen „Squid Game“ (2021), „Tote Mädchen lügen nicht“ (2017–2020) oder „Haus des Geldes“ (2017–2021) und wurden auf Netflix zum Medien-Phänomen. Für die Streaming-Plattform war dies zugleich jedes Mal ein Mega-PR-Coup. Amazon Prime will mit der Neuverfilmung von „Herr der Ringe“ für weltweite Aufmerksamkeit sorgen, Disney+ hat einen großen Vorteil durch die „StarWars“- und „Marvel“-Welten und Wow punktet gerade mit der neuen Staffel von Dexter oder der Drogen-Drama-Serie „Euphoria“. Gelungene Serien sorgen für eine lange Verweildauer der Nutzer auf der Plattform und binden sie an sie. An den StarWars-Serien von Disney, die bis auf „The Mandalorian“ unambitioniert, nicht liebevoll und teils billig produziert sind, sieht man die Tendenz zu Masse statt Klasse. Die legendäre Marke „StarWars“ soll genutzt werden, um schnell miteinander verknüpfte Welten zu erschaffen, in denen sich der Zuschauer verlieren kann. Doch was muss eine Serie haben, um Qualitäten zu liefern, die die Zeit überdauern können? In der nächsten Folge unserer Artikel-Serie zu den Streaming-Serien widmen wir uns zunächst der Frage, welche Fehler Serienschöpfer machen.

Folge 2: Die 10 schlimmsten Fehler der TV-Serien