Vieles, was den Menschen beschreibt, sind die Möglichkeiten, die er verkörpert. Diese sind anhand seiner Aktivitäten zu ermessen. Wenn der Mensch also die Funktion des Sprechens verkörpert, dann ist das Sprechen als Möglichkeit eine bestimmte Art von Kommunikation. Auch Kunst ist Kommunikation. Aber hat sie eine Funktion, die so einfach zu benennen wäre – wie die des Auges als Werkzeug des Sehens?

Funktionen der Sinne, wie das Sehen und das Hören erscheinen in einem eindeutigen Zusammenhang zu menschlichen Aktivitäten: Ich habe Augen, also kann ich sehen. Ich habe Ohren, also kann ich hören. Oder: Ich habe eine Lunge, also atme ich, ich habe ein Gehirn, also denke ich. Ursache und Wirkung scheinen hier klar bzw. der Zusammenhang zwischen Möglichkeit und funktionalem Einsatz scheint eindeutig. Was aber ist das Organ und die Funktion einer Möglichkeit wie die der Kunst?

Perspektiven auf die Kunstdefinition

Kunst kann man im Rahmen des Versuchs einer Kunst-Definition aus verschiedenen Perspektiven betrachten:

  • Als Vertiefungs-Tätigkeit, bei der man sich meditativ mit dem Gegenstand des Interesses auseinandersetzt.
  • Als Spiegel-Medium, das die Welt und die Weltbefindlichkeit reflektiert und beurteilbar bzw. empfindbar macht.
  • Als bildgebendes Verfahren des Nicht-Bewussten.
  • Als Bewältigungs- und Sublimations-Medium, mit dem man negative Erfahrungen und Krisen verarbeitet, indem man seine Gefühle transformierend abbildet.
  • Als politischer, wahrnehmungs- oder weltverändernder Akt.
  • Als intellektuelle Weltaneignung über die Ausübung einer ästhetisierenden Abbildungs-Handlung.
  • Als Handwerk im Spannungsfeld gelernter und gesteigerter Hand-/Auge-Koordination.

Wahrnehmungs-Unterschiede

Dass das oben beschriebene Bild der Zusammenhänge zwischen funktionalen Möglichkeiten und den Aktivitäten des Menschen zwar folgerichtig erscheint aber weniger eindeutig ist, als zunächst gedacht, zeigt sich an folgenden Beispielen. So ist das Auge zwar zum Sehen da aber nicht nur. Denn das Augen ist ein Impuls-Weiterleitungsorgan und es ist nicht gesagt, dass der eingehende Impuls das repräsentiert, was wir physisch sehen bzw. was objektiv vorhanden ist. Denn das Gehirn verarbeitet die visuellen Signale und gewichtet sie. Deshalb ist visuelle Wahrnehmung nicht objektiv und unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Eine Bewertung des Gesehenen erfolgt unterschiedlich – das bezieht sich auch auf die Genauigkeit der Wahrnehmung und die Prioritätenbildung.

Das denkende und fühlende Gehirn

Auch ist das Gehirn nicht nur zum Denken da sondern auch zum Fühlen. Man würde „Denken“ und „Fühlen“ aber als tendenziell konträr wahrnehmen, als widerspruchserzeugend. Denn Rationalität und Emotionalität sind zwei verschiedene Weisen, die Welt wahrzunehmen und sie zu interpretieren. Neben dem Denken und dem Fühlen ist das Gehirn ein Kontroll- und Koordinationsorgan, das automatisiert verschiedene Funktionen des Organismus steuert. Ob man aus einer körperlichen Bewegung heraus etwas wahrnimmt oder im meditativen Ruhezustand, ob man die Welt verärgert und wütend wahrnimmt oder in einem Zustand von Zufriedenheit, ob man Strukturen empfindet oder Einzelereignisse wahrnimmt – all das formt die Wahrnehmung als Erlebnis. In der Wahrnehmung scheint die Welt zum Individuum zu sprechen und sich zu zeigen. Und das, was man dort hört und sieht, verknüpft der Kunstaffine zu einer Welt in seinem Innern, die den Anstoß gibt, dem Empfundenen eine Form zu geben – ein transformativ-kommunikativer Akt.

Abstraktion und Konkretion

Um sich kommunikativ auszutauschen gibt es ritualisierte Kommunikationsformen wie die gesprochene und die geschriebene Sprache als Abstraktion oder das Bild als Konkretion, wobei das Bild beide Qualitäten aufweisen kann: es kann sehr nah am Gegenstand der Betrachtung sein, ihm also möglichst weit entsprechen, oder eine Empfindung vermitteln, die mit der Welt, wie man sie als Eingangsimpuls wahrnimmt, weniger zu tun hat. Kunst kann hier als eine Möglichkeit angesehen werden, Innenwelt und Außenwelt miteinander zu verknüpfen.

Eine Form für das Empfinden

Dabei entfernt man sich vom als objektiv Angenommenen, strukturiert, systematisiert, ritualisiert oder formt es im Hinblick auf den eigenen Ästhetisierungs-Anspruch um: nämlich in einem Verfahren der Abstraktion, die das Detail beiseitelässt und den Gegenstand in seinem Grundwirken erfasst, also in dem, was ihn nicht im Einzelnen und im Konkreten ausmacht, sondern im Großen und Ganzen – das heißt, im Wesentlichen und im Grundsätzlichen. Mental hat man ein Konzept oder Modell der Welt oder des Weltbezugs gebildet, dem man über sein künstlerisches Wirken eine Form geben möchte. Dabei ist die Formgebung vielmehr eine prozesshafte Formsuche, weil man das Äquivalent des inneren Empfindens lange Zeit oder für immer uneindeutig ist. Wäre Eindeutigkeit hergestellt, wäre die Kunst als Annäherung an eine Form am Ende angelangt.

Kunst als Vertiefung

Je nach dem, was man in sich spürt und dann sich oder anderen mitteilen will, wählt man als Kommunikationsmedium zum Beispiel etwas, das es bereits gibt und das naheliegt, wie (verbal) die Sprache oder (bildlich) die Fotografie. Oder man beginnt in einem Vertiefungsprozess, der nicht nahe liegt aber in Bezug auf den Ausdruck nachhaltig ist, in sich eine Form zu suchen, die den Ausdruck visualisieren könnte. Die Form einer Zeichnung kann eine bestimmte Strichführung sein. In der Malerei eine Stilistik, die sich etwa durch eine spezifische Haltung des Pinsels beim Malen ergibt oder durch eine Auffassung, die Welt und die Elemente und Abbildungs-Gegenstände in ihr zu betrachten. Für einen Maler könnten beispielsweise menschliche Gesichter ein wichtiges Motiv sein und er drückt mit deren Abbildung aus, was er empfindet, indem er etwa augenlose Gesichter oder maskenhafte Physiognomien darstellt. Dies wäre sein visueller Ansatz, um etwas auszudrücken, seine spezifische Form des Ausdrucks, um das Empfinden der Weltwahrnehmung zu gewichten.
Auf dem Weg der Formgenese beschreitet der Künstler einen dreistufigen Weg.

Schritt 1: Die Formfindung

Das Finden einer geeigneten Form beginnt früh mit der Präferenzbildung bezüglich der eigenen Wahrnehmung. Damit verbundene Fragen könnten z.B. lauten: Was schaue ich gerne an? Warum betrachte ich es? Warum sind bestimmte Motive so wichtig für mich? Warum etwa zeichne ich ständig geometrische Muster? Warum haben Comics es mir angetan, warum verfremde ich sie und mache ihre Motivik zu meiner Kunst? Warum stelle ich Augen der von mir gemalten Gesichter so viel größer dar, als es anatomisch richtig wäre? Warum betone ich die Muskulatur des männlichen Körpers? Die Wahrnehmung formt, lange bevor ein Kunstwerk entsteht, eine Prioritätenbildung bezüglich dessen, was ich gerne ansehe und danach gerne abbilden will. Dieses Abbilden kann reine Wiederholung sein oder ein Vorgang, der erst im Tun seinen eigenen ästhetischen Reiz entfaltet.

Schritt 2: Die Formwerdung

Während die Formfindung zu einer ersten Entscheidung führt, was grundsätzlich wie abgebildet wird bzw. wie Gestalt annehmen soll, geht es bei der Formwerdung um einen Prozess der immer wieder neuen Suche und des Findens von Ausdruckselementen, die auf dem Weg sehr unterschiedlich ausfallen können, bis sie typisiert sind und ab da stilistisch eingrenzend variiert werden. Die Formwerdung ist ein Zwischen- oder Endpunkt, an dem sich visuelle Prioritäten verfestigt haben.

Schritt 3: Die Formergänzung

Ist eine Formensprache etabliert und werden im Weiteren Elemente dieser Formensprache variiert, konkretisiert und typisiert sich der künstlerische Ausdruck zunehmend – der Ausdruck wird spezifischer und im besten Fall unverwechselbar. Was an der vom Künstler als optimal empfundenen Form noch fehlt, wird von ihm innerhalb der zahlreichen Variationen seines Stils angestrebt und verdichtet. Er ergänzt und fügt immer wieder neu hinzu, was seiner Ansicht nach fehlt. Manch ein Künstler ist der Meinung, dass jedes Bild, das er malt, etwas Neues bringt. Man könnte dem widersprechen und behaupten, er habe in seinem ganzen Leben im Grunde nur ein Bild gemalt und dies hundertfach oder tausendfach variiert.

Form und Ausdruck

Die Formensprache transportiert als Mittler den Ausdruck, und der Ausdruck repräsentiert den eigentlichen Inhalt. Wäre also der Inhalt eines möglichen Kunstwerkes ein bestimmter (biochemisch erzeugter) Gedanke oder eine Idee, dann wäre dieser (elektrische) Impuls im Gehirn die mediale Form dieses Gedankens. Der Ausdruck wäre das emotional richtungsweisende Konzept, das durch die Form dem Betrachter vermittelt wird.