kaputter KaffeefilterWarum so viel Irrationalität in aufgeklärten Zeiten? Warum wird jedes Thema zum polarisierenden Hickhack? Ob Corona-Pandemie und Impfung, Russlands Krieg gegen die Ukraine oder die sexuelle Orientierung: jedes Groß-Thema wird über den Umweg der Selbstbild-Anreicherung zum Politikum und Medientrauma. Drehen wir alle durch? Ist das Internet Schuld? Oder hat Zivilisiertheit ihre besten Zeiten hinter sich?

In einer aufgeklärten Gesellschaft könnten doch Unstimmigkeiten durch Diskussionen ausgeräumt werden. Letztlich würde man sich im Idealfall, der den Kern des Funktionierens einer Demokratie berührt, bei politischen Differenzen immer auf etwas einigen. Politische Entscheidungen sind einerseits faktenbasiert, vor allem aber interessensgeleitet und bezüglich ihrer Auswirkungen eine Wette auf die Zukunft, weil niemand garantieren kann, wie sich welche Entscheidung langfristig auswirken wird.

Unvorhersehbarkeit in der Politik

Selbst ein Bereich wie die zahlengeleitete Steuergesetzgebung kann faktenbasierte Entscheidungen treffen, die einen Zustand verbessern aber zugleich einen anderen verschlechtern können. Dies ist nicht in allen Einzelheiten und Folgewirkungen abzusehen. Grobeinschätzungen wie „richtig“ oder „falsch“ im politischen Raum sind deshalb absolut betrachtet fragwürdige Begriffe, weil sich die vermeintliche Wirkung einer politischen Entscheidung erst noch zeigen wird. „Hartz IV“, mit dem die SPD ihre Wähler verprellt hat, lässt grüßen. Es geht also um die Kommunikation, die Abstimmung zwischen den politischen Parteien und zwischen Wählern unterschiedlicher politisch-weltanschaulicher Lager.

Unterschiedliche Perspektiven von Arm und Reich

Im Wesentlichen geht es in der Politik aber um unterschiedliche Weltbilder, die sich theoretisch annähern müssten: Konservative und Liberale wollen die ökonomischen Gewinner bevorzugen, linke Politik will traditionell einen Ausgleich für schwächere Einkommen. Allerdings hat die SPD unter Gerhard Schröder (geb. 1944) als Kanzler (1998-2005) diesen Pfad verlassen und mit der Einführung von „Hartz IV“ schwächere Einkommen sanktioniert. Rechtsgerichtete Politik will, dass sich Status überproportional lohnt, linke Politik will, dass Arbeitnehmer am Erfolg von Unternehmen und Gesellschaft besser partizipieren können.

Belohnung der GeWinn-Winner

Rechte Politik will tendenziell eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, grob unterteilt in arm und reich. Dafür gibt es viele Beispiele: Bei der Krankenkasse werden privat Versicherte bevorzugt, in der 1. Klasse im Zug fährt man bequemer, bei der Steuergesetzgebung profitieren Besserverdienende, auch durch eine Gesetzgebung, die mehr Schlupflöcher bietet, je mehr man verdient. Selbst ein kriminelles System wie „Cum-Ex“, das Milliarden an Steuergeldern abgezapft hat, wurde von der Politik trotz Hinweisen so lange nicht verfolgt, bis die Medien die Tragweite des Skandals aufdeckten. Wen wundert es, dass in einem scheinbar sehr reichen Land, in dem Wenige profitieren, während Millionen verarmt sind, immer weniger an diesen Staat glauben und ihre politische Heimat jenseits der etablierten Parteien suchen. Denn heute sind ökonomische Aufstiegschancen ohne entsprechenden Background eine Seltenheit geworden.

Argument und Emotion

Vernunft und Faktenbasierung gehen Hand in Hand aber wir leben in Zeiten der kommunikativen Unvernunft. Man könnte annehmen, dass vieles, das die AfD von sich gibt, nur auf Destruktion und eine Verunsachlichung des Diskurses ausgelegt ist, etwa bezogen auf den Klimawandel. Man könnte annehmen, dass Scheinargumente, die diesbezüglich vorgebracht werden, schnell faktenbasiert entkräftet werden können. Doch so funktioniert es nicht. Denn diese Annahme geht davon aus, dass Menschen ausschließlich oder zumindest überwiegend rationale Wesen sind, die argumentativ zu erreichen sind. Wenn der Mensch allerdings auf Gefühle wie Enttäuschung zurückgeworfen wird, funktioniert er nicht mehr rational, dann geht es nicht mehr um Vernunft, die auf verbrieftem Wissen basiert sondern um Angst, Wut und Hass. Zumal wenn Populisten ihre Wähler primen und gegen Sündenböcke aufhetzen.

Der wirtschaftliche Aufabstieg Deutschlands

Nach dem 2. Weltkrieg haben die sogenannten „westlichen Staaten“ einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung erreicht. Der war zwar zunächst noch getrübt durch die Auswirkungen der beiden Weltkriege (1. Weltkrieg 1914-1918/2. Weltkrieg 1939-1945) und die vorherige Weltwirtschaftskrise ab 1929, dennoch entstand für viele mehr Wohlstand, der zunächst auch weiter zunahm. Bereits in den 1980er-Jahren zeigte sich jedoch, dass es so nicht weitergehen würde. Staatslenker wie

  • Helmut Kohl, geb. 1930; Bundeskanzler in Deutschland von 1982-1998,
  • Margaret Thatcher, geb. 1925; Premierministerin in Großbritannien von 1979-1990 und
  • Ronald Reagan, geb. 1911; Präsident in den USA von 1981-1989

tricksten sich durch ihre Haushalte und begannen durch politische Entscheidungen den sozialen Frieden ihrer Gesellschaften schleichend zu zerstören. Am Sichtbarsten und mit zynisch vorgetragener Aggressivität tat dies Margaret Thatcher. Sie artikulierte sogar in einem berühmt gewordenen Satz, dass es einen gesellschaftlichen Zusammenhalt gar nicht gäbe, nur einzelne Individuen, die für sich selbst Verantwortung übernehmen müssten – ein neoliberales Menschenbild in Reinkultur. Amerika war sowieso immer schon ein Extremfall der Selbstbereicherung durch wohlhabende Schichten. Ein brüchiges Sozial- und Gesundheitssystem mündet dort in ökonomische Unmenschlichkeit. So ist heute der Hauptgrund von US-Privat-Insolvenzen eine schwere Krankheit in der Familie, weil die oft von den Krankenkassen nicht übernommen wird. Eine Serie wie „Breaking Bad“ ist übrigens als kultureller Kommentar zu diesem Umstand zu verstehen. Denn hier gerät der krebskranke Protagonist auf die schiefe Bahn, weil seine Behandlung kaum zu finanzieren ist.

Siegeszug des Neoliberalismus

Die nach den langen Amtszeiten der Vorgenannten nächsten Generationen von Staatenlenkern trugen meist weiter dazu bei, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Gutverdiener und Prekär-Überwasserhalter, weiter spreizte. Sie weichten den sozialen Frieden schleichend auf, für den in Deutschland vor allem die SPD als damalige Arbeitnehmerpartei gestanden hatte. Gerhard Schröder als SPD-Kanzler und Angela Merkel (geb. 1954; Bundeskanzlerin von 2005-2021) haben dem gesellschaftlichen Ausgleich den Todesstoß versetzt. So konnte sich bis heute ein Neoliberalismus etablieren, der vom Ergebnis her das Gemeinwohl außer Acht lässt und gesellschaftlich ökonomische Gewinner polarisierend überproportional belohnt.

Kapitalismus als dysfunktionales Perpetuum Mobile

Dass es so kam, war aber nicht nur eine Sache einiger politischer Figuren oder der Neoliberalisierung der Politik als standardisiertes Selbstbereicherungs-Modell insgesamt. Der tieferliegende Grund ist das nicht zu Ende gedachte System des Kapitalismus. Denn der musste zwangsläufig als Geldmaschine irgendwann aus dem Tritt geraten – unter anderem, weil relativ gleichbleibende Machtstrukturen aus einer Demokratie einen Selbstbedienungsladen für politische Parteien, Lobbyisten und Unternehmen machen. Ökonomen haben die Augen davor verschlossen, dass der Kapitalismus ein Strohfeuer ist, das in Kapital-Extremismus münden wird, weil das andauernde Wachstumsversprechen eine Fiktion ist. Dass die reichsten Menschen der Welt inzwischen so unfassbar reich sein können, ist dem Umstand geschuldet, dass Milliarden Menschen so unfassbar arm geworden sind.

Wettlauf zwischen Arm und Reich

Ewiges Wachstum, das eine Voraussetzung für ökonomisches Funktionieren ist, ist nicht möglich. Auch basiert der Wohlstand reicher Länder nicht nur auf deren Leistungsfähigkeit, sondern er ist Ergebnis eines Jahrhunderte währenden weltweiten Wettlaufes zwischen armen und reichen Ländern. Am aktuellen Aufstieg Asiens und vor allem Chinas sieht man, dass sich Kräfteverhältnisse und ökonomische Seilschaften verschieben können, dass der Verdrängungswettbewerb zwischen den Volkswirtschaften Permanenz aufweist. Der Aufstieg des Kapitalismus ist zudem eine Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen sowie von gewaltausübenden Machtstrukturen im internationalen Maßstab. Ewiges Wachstum und ewiger Machterhalt sind nicht möglich. Seit den 1980er-Jahren wurde mit volkswirtschaftlichem Jonglieren verschleiert, dass die Kapitalismus-Maschine ins Stottern geraten ist. Der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm (1935-2020) im Kabinett von Helmut Kohl ließ sich in dieser unsicheren Lage zur politischen Lüge „Die Renten sind sicher“ hinreißen. Nicht zu reden davon, dass der erzielte Wohlstand systemisch teuer erkauft wurde: zulasten der Umwelt. Mal wurde die schützende Ozonschicht partiell zerstört, der Wald und immer mehr Tier-Arten sterben erst in Zeitlupe dann im Zeitraffer, und nun führt die Ausschlachtung der Welt zur Erderwärmung.

Wieviel Obdachlose gibt es in den USA?

Auf wessen Kosten geht der Wohlstand?

Ein blanker Kapitalismus, der keine soziale Marktwirtschaft mehr ist, produziert Wohlstand, der auf immer weniger Personen verteilt ist. Wohlstand in westlichen Ländern ist immer mehr nur noch relativer Wohlstand, weil ausgerechnete Pro-Kopf-Einkommen bezogen auf die Gesamtbevölkerung außer Acht lassen, dass inzwischen Millionen unter der Armutsgrenze leben – und das in einem nominell reichen Land. Das kann man an den Schwächsten der Gesellschaft besonders gut sehen, an Kindern und Obdachlosen:

  • 2019 wuchsen mehr als 20% aller Kinder im reichen Deutschland in Armut auf
  • 2020 lebten fast 2 Millionen Kinder unter 18 Jahren von Hartz IV
  • 2020 gab es (Flüchtlinge nicht mitgerechnet) 256.000 Wohnungslose im reichen Deutschland

Radikalisierung durch Armut

Wer am Existenzminimum lebt, wem das Wasser finanziell bis zum Hals steht, der fühlt eher, als dass er sachlich bleiben würde, weil er sich schämt, weil er Angst hat, weil er wütend auf „das System“ ist, das er als für sein Schicksal verantwortlich hält. So führt ökonomische Ungleichheit zu Unvernunft, die sich politisch in einer Radikalisierung entlädt. Etablierte politische Kräfte des Egoismus wie die CDU/CSU und die FDP wissen das und haben die gesellschaftliche Ungleichheit innerhalb eines Systems der zynismusgetriebenen Selbstbereicherung zur Blüte geführt. Man konnte das plastisch an den menschenverachtenden Maskendeals von Mitgliedern dieser Parteien in der Coronakrise sehen. Das Motto: Wahre Geschäftstüchtigkeit geht auch über Leichen.

Parteienversagen in der Corona-Krise

Und nun wird die AfD stärker. Die Worte der angestammten konservativen Parteien gehen in die Richtung, man habe die eigenen Ziele nicht richtig kommuniziert, deshalb hätten die Wähler die Botschaft nicht verstanden und würde die Rechtsaußen-Alternative wählen. Doch tatsächlich fühlen beträchtliche Teile der Wähler sehr gut, dass ihre Interessen nicht mehr gewahrt sind, dass man ihre Verarmung in Kauf nimmt und immer weitere Teile auch der Mittelschicht mit dem ökonomischen Abstieg bedroht. Sehr genau war etwa zu beobachten, dass die deutsche Politik in der Coronakrise sicherstellte, dass Vermieter ihrer Mieteinkünfte sicher sein konnten, während die Interessen der Mieter weniger wichtig waren. Systemrelevante Staatsunternehmen wie die Deutsche Bundesbahn hat die Autonation Deutschland in Form all der CSU-Verkehrsminister vor die Wand fahren lassen. Eine regionale Fahrt mit der DB kommt für den Kunden heute einem Spießrutenlauf gleich, während im europäischen Ausland die Züge pünktlich fahren. Man hat die DB kaputtgespart, weil jeder, der gut verdient, sich ja ein Auto leisten kann – so funktioniert neoliberale Klientelpolitik, auch unter FDP-Verkehrsminister Volker Wissing (geb. 1970) immer noch. Eine Perspektive für mehr Pünktlichkeit gibt es nicht. Der potenzielle Wähler hat in vielerlei Hinsicht den Eindruck, in einem dysfunktionalen Staat zu leben. Das hat sich in der Coronakrise zugespitzt und auch danach deutlich gezeigt, an nicht funktionierenden Kindergärten oder Schulen.

Politische Dummheit folgt auf Armut

Vernunft und Faktenorientierung funktionieren nicht in der Not und nicht bei Armut. Das sieht man spätestens seit 2015 als Donald Trump (geb. 1946) mit nie gehörten Hassbotschaften und Lügen zum Wahlkampf ansetzte. Keinerlei Fakten erreichen mehr dessen Befürworter, auch weil der Hass mit ausgelöst durch die Auswirkungen des Kapitalismus für Reiche jede Vernunft im Keim erstickt. Selbst, dass wiederum Milliardäre sich als Anti-Establishment-Kräfte positionieren, wo doch niemand so viel mehr das von Verarmten verhasste System verkörpert als sie, dringt nicht mehr zu einer großen Zahl an Wählern durch. Selbst, dass Donald Trump nur sein eigenes Wohlergehen im Sinn hat und ihm seine Wähler egal sind, interessiert die nicht mehr, Hauptsache er bekämpft das verhasste System. Alles, was die Verarmten oder von Verarmung Bedrohten wollen, ist, dass sie nicht mehr über den Tisch gezogen werden. Dafür liefern sie sich Kräften aus, die noch Schlimmeres mit ihnen im Sinn haben. Ob Donald Trump oder Ron DeSantis als republikanischer Präsidentschaftsanwärter in den USA; ob Björn Höcke (geb. 1972) von der AfD; ob Boris Johnson (geb. 1964) in England; ob Jair Bolsonaro (geb. 1955) in Brasilien; ob Giorgia Meloni (geb. 1977) als italienische Ministerpräsidentin – der politische Abgrund ist tief.

Social-Media-süchtige Influencer

Die Antwort auf das Erschlaffen des Gemeinwohls im Spätkapitalismus ist politisch gesteuerte Menschenverachtung, flankiert von einer Art internetinduzierter Paranoia, die nur noch starke Gefühle gelten lässt. Internet-Größen in den USA wie Elon Musk (geb. 1971), Donald Trump, wie Jordan Peterson (geb. 1962), Joe Rogan (geb. 1967) oder Ben Shapiro (geb. 1984) haben sich immer mehr radikalisiert und erklären Verschwörungstheorien zu Fakten. Man ist peinlich berührt, wenn man dem zuhört, weil das Publizierte und verbal Verbreitete unabhängig vom Intelligenzquotienten des Einzelnen unterkomplex dümmlich ist. Alles, was man spürt, ist ein oszillieren der kommunikativen Äußerungen solcher Persönlichkeiten zwischen Verstiegenheit und Paranoia. Dopaminüberflutet sitzen sie mit leuchtenden Hirnen vor ihren Bildschirmen – süchtig nach starken Empfindungen, nicht nach Wahrheit.

Trump als gesellschaftliches Geschwür

Und hört man den Tiraden eines Donald Trump zu, der zwischen Christuskomplex und Faschismus schwankt, wähnt man sich in einem Sado-Maso-Spiel. Gegenüber Wladimir Putin (geb. 1952) gibt Donald Trump den Unterwürfigen, wirkt fast wie ein kleiner Schuljunge. Ansonsten führt der Ex-Präsident, der privat eher depressiv-morbide wirkt und ständig Endzeit-Botschaften verkündet, medial verstärkt ein unglaubwürdiges Schauspiel von grandioser Dominanz auf. Der übergewichtige Scheinpolitiker mit der glatzekaschierenden Kunstfrisur, der privat hamburgerfressend vor seinen Bildschirmen sitzt, ist nur jemand, wenn er auf der Bühne die Mähr davon verbreiten kann, er sei jemand. Wer ihm genau zuhört, spürt, dass er niemand ist. Er erfindet sich im Lügen. Dass nicht wenige Amerikaner so jemandem zuhören, sagt viel über das Scheitern eines Systems aus, in dem jemand wie er nur „ist“, wenn er online und medial jeder sozialen Kontrolle entzogen scheinen kann.