Bergbau und Berschäden.

Das Büro des Bergbau-Schäden-Regulierungsamtes war im England der frühen 90er Jahre gegründet worden, um in einem Landkreis, in dem es viel Industrie gegeben hatte, die Forderungen jener Hausbesitzer zu bearbeiten, an deren Häusern Bergschäden durch den unterirdischen Kohleabbau entstanden waren. Es waren dazu acht Planstellen geschaffen worden, mit einem Geschäftsführer und sieben Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern.

Nach einem stürmischen Jahrzehnt der Regulierung, nach all den Anträgen wegen Bergschäden, nach all den abgesackten Häusern und den Rissen in Fassaden und Gemäuern beruhigte sich die Lage schneller als prognostiziert. Der Bergbau war nach und nach eingestellt worden. Es gab daher kaum noch aktive Bergwerke und entsprechend wenig Hausbesitzer, die nach einem Schadensersatz verlangten oder vor Gericht gehen wollten. Hinzu kam eine neue sichere Technik bei der unterirdischen Verfüllung inaktiver Stollen, wodurch nachgebende Erdschichten weitesgehend ausgeschlossen waren. Die Zeit der Gutachten, Schätzungen und Zahlungen schien unweigerlich vorüber zu sein.

Zunächst waren alle in der hiesigen Zweigstelle des Bergbauschäden-Regulierungsamtes motiviert genug, sich Arbeit aktiv zu suchen – wenn es nicht anders ging, auch artfremde Arbeit. McDermitt ging so weit, sich einen Neben-Job zu suchen und kassierte damit zeitweise sogar zwei Löhne. Sein Chef untersagte ihm dies nur deshalb, weil der durch die Untersagung selbst einen Verwaltungsgang in Kraft setzen konnte, wodurch er etwas zu tun bekam und dankbar eine Akte anlegen konnte. Ansonsten verlor niemand ein Wort darüber, alle waren gelähmt von der Aussicht, irgendwann arbeitslos zu sein und sich nicht mehr ernähren zu können.

Fulton, der jüngste Mitarbeiter im Büro, wollte einen Roman mit dem Titel „Im Armenhaus“ schreiben. Weil er meinte, seine visionären Träume in all den Nächten der letzten Wochen, in denen er sich – im Bett liegend, zitternd, teils wie von Schüttellähmung befallen – im Armenhaus gesehen hatte, müssten schriftstellerisch verarbeitet werden.

Mr. Phillips, der Geschäftsführer, war nur noch dabei anzutreffen, wie er in seinem großen Büro trotz der bequemen Stühle am Fenster stand und hinausblickte. Als er bemerkte, dass man darüber redete, ließ er seinen Schreibtisch umstellen, sodass er im Sitzen hinaussehen konnte und es nicht so wirkte, als stünde er einfach so herum.

Es gab vieles Andere, um die Zeit zu nutzen: Ausgedehnte Gesellschaftsspiele, mehrere Mittags- und Kaffeepausen oder Wanderungen, die offiziell als Bergbau-Exkursionen zum Zwecke der Fortbildung deklariert waren. Manche Tage vergingen angefangen mit einem langen Frühstück, nahtlos gefolgt von einem sehr langen gemeinsamen Mittagessen, das automatisch in ein noch längeres Kaffeetrinken überging.  Doch es half alles nichts: Der morgendliche Gang zur Arbeit war für alle ein tiefer Blick in den Abgrund der Langeweile. Wie würde es nur weitergehen? Konnten sie etwas tun, um das Unausweichliche noch abzuwenden?

Die Mitarbeiter saßen in ihrem Großraumbüro und erwarteten jeden Morgen sehnlichst den Kurier, der die Post vom Postfach abholte und ihnen vorbeibrachte. Dieses Warten auf den Posteingang war inzwischen ihre Haupttätigkeit geworden, genaugenommen: die einzige Tätigkeit. „Post“ war gleichbedeutend mit „Arbeit“ geworden. So drängelten und schubsten sie im Bereich der Eingangstür, immer kurz bevor der Bote kommen würde. Jeder wollte der erste sein, um die Post schnellstens in Empfang zu nehmen. Sie sehnten in diesem Falle sogar unsachliche Schreiben, Mord-Drohungen und Erpresser-Briefe mit Androhungen von Prozesslawinen herbei. All das, was sie in den stressigen Jahren der Auseinandersetzungen gefürchtet hatten, wäre ihnen nun sehr willkommen gewesen.

Doch wo der Bote früher im Kastenwagen vorgefahren war, um dessen Heck  jeden Tag um die gleiche Zeit zu öffnen, um mindestens zwei große Kartons bis oben hin gefüllt mit Briefen zwischen den Flügeltüren hervorzuholen und bei ihnen abzuliefern, kam er heute im kleinen Elektroauto, öffnete seine Jacke und holte aus der Innentasche zwei bis drei Briefe, von denen oftmals ein bis zwei falsch adressiert waren, sodass sie sie ihm am nächsten Tag wieder mitgeben mußten. Miller sprach die Vermutung aus, der Bote würde die Post absichtlich so nachlässig sortieren, weil er Mitleid mit ihnen hatte. Denn Jimi, der Bote, wußte genau: Ein falsch abgelieferter Brief bedeutete einen neuen Verwaltungsgang, der mit dem Ausfüllen mehrerer Formulare zu begleiten war. Öffnete ein Mitarbeiter den Brief irrtümlich, sofern er nicht darauf geachtet hatte, das der Brief nicht für die Zweigstelle des Bergbauschäden-Regulierungsamtes bestimmt war, waren sogar bis zu acht ausgefüllte Formulare notwendig, sowie zwei weitere, die man dem falschen Adressaten zur Rücksendung beifügte – das hatte man in einem Qualitäts-Zirkel ermittelt. Verirrte sich gar ein Brief aus Übersee zu ihnen, war die Woche gerettet: Dann waren alle mit der einen Retouren-Bearbeitung ausgelastet und konnten ihr organisatorisch-administratives Arbeitsgruppen-Know-how voll ausspielen.

McGovern hatte darüber hinaus eine komplexes System für die Ablage der Werbepost entwickelt. Auch Spam, die sich im Email-Filter verfing, wurde nicht etwa gelöscht sondern nach inhaltlichen Kriterien absortiert und archiviert. McGovern hatte angefangen, jede einzelne Spam persönlich und – sofern das durch eine korrekte Absenderangabe möglich erschien – auch postalisch zu beantworten. Dadurch war von außen betrachtet die Quantität der Koresspondenz im Verhältnis zu früher gar nicht mal so erheblich eingebrochen.

Trulli, die eigentlich wenig mehr als Archivierungs-Tätigkeiten zu vollführen hatte sowie den Tag über italienische Zeitungen las und ins Deutsche übersetzte, öffnete und schloß den ganzen Tag jede einzelne Tür, lauschte, ob es dabei ein Geräusch gab und ölte die Schaniere und Griffe. Gleiches tat sie seit letzter Woche mit den Fenstern. Die Kollegen waren dazu übergegangen, sich gesenseitig großzügig mit Kaugummis zu versorgen, weil jedes auf den Boden gespuckte und festgetretene Kaugummi von Trulli dankbar und rückstandslos mit einem Spachtel und einem eigens dafür entwickelten Aceton-Gemisch entfernt wurde.

Jeder war bemüht, im Rahmen seines Wirkens Sinn zu stiften. Es war allen klar, dass ihre Arbeitsplätze langsam höchst unsicher wurden, ja, dass ihre Institution in ihren Grundsätzen  in Frage gestellt war – obwohl es von offizieller Seite noch keine Stellungnahme dazu gegeben hatte. Es war offenbar noch niemandem dort oben aufgefallen, dass das Büro und seine Tätigkeiten keinen Sinn mehr machten. Jeden Tag konnte eine Nachricht kommen, eine Email, ein Brief, vielleicht sogar ein persönlicher Besuch, der davon künden würde, dass alles vorbei war.

Aussichtlosigkeit machte sich breit. Manch ein Mitarbeiter starrte traurig auf die Maserung seines Holz-Schreibtisches und entdeckte in diesen Mustern Gesichter und seltsame Wesen, die offenbar immer genügend Arbeit hatten und stets an einem gedeckten Tisch saßen. Als sich diese Geschichten zu verselbständigen begannen und alle kurz davor waren, die Flucht in ihre Phantasie-Welten anzutreten, hatte Therese McMillan aus der Buchhaltung die rettende Idee, die sie sofort ihrem Vorgesetzten, der hinter seinem vorbildlich aufgeräumten Schreibtisch saß und durch das grandiose Panorama-Fenster zum Park hinausblickte, mitteilte.

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Hier findet ihr die erste Mitmachgeschichte (klick&write).