Dunkelmann

Tom hatte einen Satz im Kopf, den er sich gerade ausgedacht hatte: „Liebe bedeutet, seinen Schmerz zu teilen.“ Er musste an die Frau denken, an der er vorbei gegangen war. Sie hatte die Tür geschlossen und nach ihm den Raum betreten. Sie stand jetzt in unmittelbarer Nähe hinter ihm und bestimmt musterte sie ihn weiter auf ihre amüsiert-herausfordernde Art.

Tom sah sich um. Der Raum hatte einen eigentümlichen Geruch. Vielleicht Bohnerwachs. Der Boden bestand aus Stabpakett. Konnte also hinkommen. Alkohol, Zigaretten, Zigarren und Frauenparfum. Aber es war noch etwas anderes. Es musste eine Küche geben. Gebratenes. Tom mochte die Mischung dieser Gerüche. Über allem hing etwas Unbestimmtes: die Summe der Jahre, die dieses Lokal existierte, und es schien einige Jahre auf dem Buckel zu haben.

„Bringst du das Päckchen?“ fragte die Frau lächelnd. Sie hatte instinktiv die Hand nach der Tüte ausgestreckt. Tom rührte sich nicht. Sie zog die Hand zurück. Tom nickte. Der Mann am Tischchen hatte in diesem Augenblick von seinem Buch hoch geguckt. „Dann nach oben mit dir.“ Sie wies zur Tür vor Kopf. Dahinter musste sich eine Treppe befinden. So schöne Augen: die Frau hatte ein Gesicht, das er am liebsten immerzu betrachtet hätte. Die Klarheit ihrer Falten wies sie als jemanden aus, die die Liebe mit allen ihren Fallstricken kannte. Vielleicht verbarg sich hinter ihrer Keckheit, dass sie im Leben nichts mehr zu verlieren hatte, weil sie am Ende war.

Es war eine Schwingtür, wie man sie in Kneipen öfters fand. Der Flur dahinter mochte vor Jahrzehnten richtig was hergemacht haben. Dunkles Holz bis zur Decke, stumpf, abgewetzt. An einzelnen Stellen weiter oben war es verfärbt und geplatzt oder wirkte aufgequollen. Der Flur ging geradeaus zu einer Hintertür, links ging eine Tür ab, auf der „Privat“ stand und rechts würde hinter der Treppe wohl eine weitere Tür in den Keller führen. Sie war aber nicht zu sehen. Tom ging nach rechts hoch und sah nach unten vor sich, um nicht zu stopern. Er ging, kaum dass ein Lichtstrahl in den Flur drang, die Treppe hoch. Knarrende Geräusche während die Tüte unter seinem Arm raschelte.

Drinnen war die Frau zum Tischchen des lesenden Mannes gegangen. Der hatte zu ihr aufgeblickt und höhnisch gegrinst. „Hast du den gesehen?“ Sie sah zu ihm hinunter. „Ein ganz Schüchterner“, sagte sie nickend. „Fehlbesetzung“, murmelte er zu sich selbst und las weiter.