Knotenpunk

„Sie springen doch wohl nicht – bei dem schönen Wetter?“ sagt eine ältere Frau zu mir, skeptisch lächelnd im Vorbeigehen. Ich bin schwarz angezogen und sehe wohl auch nicht sehr glücklich aus. Ich lehne an einer Brücke, unten ist vor langer Zeit wohl mal ein Bach geflossen. „Nein“, entgegene ich lächelnd zurück, „wäre mir zu hoch. Am Ende komme ich unten noch tot an.“ Sie lächelt halbschräg, hebt die Hand zum „Nichts-für-ungut“ und geht weiter.

Vermutlich denkt sie noch eine Zeit darüber nach, wie ich das gemeint habe. Sie wird bis sie zuhause angekommen ist, noch darüber nachdenken, ob ich mich umbringen wollte oder nicht. Dabei wird sie aber nicht auf den Dackel aufpassen, der die Gelegenheit nutzt und überall hinkackt und hinpisst. Wenn sie das sieht, wird sie ihn anbrüllen und zurückzerren und in Null-Komma-Nichts bin ich vergessen.

So war das immer in meinem Leben. Seit dem katholischen Mädchengymnasium habe ich erfahren, was es heißt, ausgestoßen zu sein. Ich habe nicht dazugehört, eigentlich nie. Eigentlich gibt es auf der einen Seite die Welt, und zwar die ganze Welt, und auf der anderen Seite stehe ich. So gucke ich über die extrem dicke Steinbrüstung, muß mich schon fast drauflegen, um nach unten zu gucken und schaue, wie tief ich fallen würde.

Die Frau hat mich irgendwie aus dem Konzept gebracht. Außergewöhnlich und genau das Gegenteil von dem, an das ich gewöhnt bin: Dass sich mal jemand um mich kümmert. Wäre glatt ein Grund nicht zu springen. Eigentlich aber war es ja noch gar keine klare Sache, dass ich überhaupt springen wollte, hätte aber vielleicht schon sein können. Ich habe überlegt. Überlegt, es vielleicht zu tun. Warum? Weiß ich selbst nicht genau. Vielleicht schwierig, ohne Freunde über die Runden zu kommen, vielleicht aber auch endogen oder genetisch bedingt.

Meine Tante, so die offizielle Version, damit es nicht so hoffnungslos klingt, ist aus dem Fenster gestürzt. Ich weiß aber, dass sie absichtlich gesprungen ist. Sie hat auch kein großes Drama gemacht, so nach dem Motto, versucht aber dann doch gerettet. Nein, sie hat ganze Arbeit geleistet. Ich glaube, zumindest habe ich mir das immer so vorgestellt, sie wäre vielleicht mit den Beinen aufgekommen und hätte sich dann einen üblen Trümmerbruch zugezogen, der zur Folge gehabt hätte, dass sie aufgrund amputierter Beine ein Leben lang auf einem Wägelchen durch die Landschaft hätte juckeln müssen oder gezogen von einem abgerichteten Hund oder einem Esel, den sie mit einer an einer Angel befestigten Möhre oder Wurst hätte locken müssen.

Also jedenfalls glaube ich, dass sie, um all das zu vermeiden, sogar noch einem Salto Mortale in der Luft vollführt hat, damit sie mit dem Kopf auf dem traditionsreichen Kopfsteinpflaster aufkommt, das, wie der Name schon sagt, hart und gemein zu Köpfen sein kann bzw. ist, genauer gesagt hat sie sich sogar so gedreht, dass nicht nur ihr Genick sofort geborsten ist sondern sie sogar noch mit dem Gesicht das Pflaster entlanggeschrappt ist, sodass es zu Brei zermalmt wurde und ihre formvollendete Brust, die mein Onkel dem Vernehmen nach sehr geschätzt hat, eine einzige große Schürfwunde war. Wie sie das genau gemacht hat, weiß keiner. Sie war immer so schwungvoll. In dieser Tradition stehe ich also.

Ich bin nicht depressiv oder ansonsten traurig. Ich halte mich objektiv für zu Kurz gekommen. Ich habe niemanden, der mich liebt, hatte auch noch nie jemanden, ich habe noch nicht mal jemanden, der mich fickt, und wenn er mich nur missbrauchen würde. Selbst am katholischen Mädchengymnasium hat es kein Lehrer versucht. Zumindest und natürlich bei mir nur nicht. Es gibt auch niemanden, der übermäßig traurig sein würde, wenn ich nicht mehr da wäre. Meine Mutter hat immer nur an sich gedacht. Formal hat sie mich durchgebracht und über alle Klippen hinweg befördert. Doch sie selbst war sich immer die nächste. Sie hat nie versucht in mir als Haus eine Türe aufzumachen, um zu sehen, wie es in mir aussieht. Sie war beileibe keine Rabenmutter. Aber ich denke mal, ich hätte eine ganz besonders aufmerksame Mutter gebraucht, damit etwas aus mir hätte werden können.

So, jetzt stehe ich hier oben und blicke in die Tiefe. Willst du mir eine Predigt halten, wie toll das Leben ist? Sei mal mutig. Schubs mich. Sag nur ein Wort vor dich hin, während du das liest, sag‘ einfach „Spring!“ So entkommst du deiner voyeristischen Passivität.