Portugiesische Lehre

Er hielt das Foto nicht nur angewinkelt, sondern bog es in der Mitte durch, fast, als wollte er es knicken und dann zerknüllen oder doch zumindest der Außenwelt vorenthalten. Dabei versuchte er nur, das Motiv den Reflexionen der Oktobersonne auf der spiegelnden Oberfläche zu entziehen.

Auf dem Bild konnte der Betrachter einen kleinen Jungen erkennen, der am Strand im Sand kniete und nach unten blickte – auf den gallertartig-eingetrübten Klumpen einer Qualle. „Da war Dennis 6 1/2. Er war fasziniert von der Qualle im Wasser und erstaunt, wie klumpig sie außerhalb des Meeres geworden war. Er hatte immer wieder gefragt, ob das die gleiche war wie im Wasser. Ich weiß nicht mehr.“ Er musste lächeln, als er das erzählte.

Der Erzähler stoppte seine Ausführungen für einen Moment und griff nach der Teetasse. Die hatte eine schlanke hohe Gestalt und war an der Außenseite hochglänzend schwarz glasiert und an der Innenseite weiß, wäre nicht der hellgrün-leuchtende Tee gewesen. Er nahm einen Schluck und blickte dabei auf den Rand der Tasse.

Das schwarze Porzellan an der Außenseite reichte exakt bis zur Mitte des Randes. Das erschien ihm als eine Meisterleistung in größt möglicher Präzision. Blickte er ganz gerade und zentriert von oben auf den Rand der Tasse, konnte er einen hauchdünnen Innenring und daneben einen ebenso dünnen Aussenring erkennen. Der schwarze Ring umschloss behütend oder einengend den weißen, drückte ihn zusammen, ließ ihm keine Luft sich auszudehnen. Dahinter die Sanftmut des grünen Sees.

Er bemerkte verloren, dass er für einen Augenblick eine kleine Gedankenreise unternommen hatte. Das passierte ihm manchmal – im Laufe der Jahre immer öfter.

Sie saßen in einem Bungalow mit ungewöhnlicher Deckenhöhe. Die Wände waren weiß. Die Fenster in diesem Teil des Raumes wirkten, als hätten sie keine Glasscheiben. Draußen sah man nur Natur: Bäume, weite Rasenflächen mit geschwungenen Wegen, die der Herbst eingefärbt hatte: überall braune, rote, gelbe und beige Blätter. Es war, als säße man in diesem Raum mitten im Garten Eden – ohne die Nachteile des Herbstwetters.

Das Mobiliar war geprägt von dunklem Holz und schwarzem Leder. „Er hatte damals zu dieser Zeit“, setzte der alte Mann an, „wohl seine Liebe zum Meer speziell aber zu den Quallen entdeckt, die er im Wasser so wunderschön fragil empfunden hatte.“

Das Gesicht des Erzählers wirkte in der tief stehenden Herbstsonne wie zerfurcht. Jeder Teil seines Antlitzes war durch klar abgegrenzte tiefe Linien segmentiert. Die Augen mit Tränensäcken darunter, die hervortraten, die gebogene Nase, die im Gesicht saß, als hätte man mit Wucht einen Haken hineingeschlagen, um ihn dort auf ewig zu verankern. Die nach unten weisenden Einkerbungen in den Mundwinkeln saßen über dem Kinn, das wie ein Ball in den Sand des Strandes ganz nah am Meer hineingedrückt worden war. Das Gesicht war sehr hell, die wenigen Haare rötlich. Viele Flecken und Sommersprossen bedeckten es.

„Tja,… das ist einige Zeit her…“ Er wandte seinen Blick zu jenem jungen Mann und jener jungen Frau, die über Eck auf dem langen Sofa saßen. Die beiden schwiegen, wie in einer Art Schrecksekunde. Die Frau sammelte sich, dann entgegnete sie leise: „Wir haben nachher ein Treffen. Angelika und Guido sind dann auch da… auch mit dem Flieger übern großen Teich.“ Sie lächelte ohne Überschwang, um in die Beklommenheit etwas Leichtigkeit zu bringen. „Und die anderen auch, zumindest der Großteil. Sie wollten auf jeden Fall dabei sein.“ Der alte Mann nickte und nahm für eine Weile ihre Hand in die seine.

„Da wird wieder die Frage hochkommen, wie das eigentlich passiert ist.“ Er rieb sich unter einer in Wellen gekräuselten Stirn das Kinn. Seine dunklen Augen wanderten unruhig hin und her, sie wirkten wie zwei unvertäute Boote auf einem See, ohne dass man wissen konnte, in welche Richtung sie getrieben würden. „Naja,…“, sein Blick suchte Halt in den Augen der Frau, „damals hat er sich in die Quallen verliebt. Er konnte nicht fassen, wie sie waren. So filigran, so anmutig im Wasser, fast überirdisch hat er sie gefunden. Und schön sind sie ja auch tatsächlich“, setzte er fast trotzig hinzu. „Aber man darf sie nicht berühren“, ergänzte die Frau mit gesenktem Kopf. Der alte Mann verfiel ins Sachliche: „Ja, wie ist das gekommen? Ich glaube manchmal, er wollte einfach in Schönheit sterben. Er wollte vielleicht gar nicht alt werden und diesen ganzen Dreck, den man Leben nennt, nicht bis zuende mitmachen.“

Die Frau nickte: „Er wollte bestimmt einen jungen Tod sterben“, presste sie sich heraus. Jetzt hielt der Mann, mit dem sie gekommen war, ihre Hand. „Eine Selbsttötung, die von ihm ebenso zärtlich ausgeführt worden war, wie er die Quallen feinnervig fand?“, fragte der alte Mann. Die Schwere der Gedanken, die jeder für sich dachte, schienen dem lichtdurchfluteten Raum die Kraft zu nehmen. Keiner sagte mehr etwas. Sie betrachteten die Wände, als würden dort große Bilder hängen, die es zu betrachten galt. Die spröde Oberfläche des Rauhputzes schien zu sprechen. Die Wände zeigten Bilder von Dennis, wie er lachte, sich braun gebrannt in die Wellen warf. Wie er von der Schönheit der Quallen geblendet war und immer öfter auch gefährliche Arten berühren wollte. „Verbrenn dir nicht die Finger“, hatte sein Vater gescherzt. „Dieses Feuer kühlt“, hatte Dennis gesagt. Immer öfter war er ins Meer gegangen oder war hinausgerudert. „Was willst du dort immer?“, hatte sein Vater gefragt. „Schönheit“, hatte ein Denis entgegnet, der gar nicht mehr richtig bei den Seinen war.

Früher war er nie gerne schwimmen gegangen. Nun hatte er das Wasser als sanften Schutzwall empfunden. Als eine zarte Rüstung, die ihn umfing und umschloss, damit er hinaus zu den Quallen gelangen konnte. Die schönste trug ihm ihren Namen „Portugiesische Galeere“ entgegen, als er ihr die Hand reichte, obwohl sie gar keine richtige Qualle war, eher ein Zusammenschluß kleinerer durchsichtiger Wesen. „Das ist eine Menschenangel“, hatte er einmal gesagt. Aber wer lässt sich fangen? Und Dennis wusste genau, dass in den intensivsten Augenblicken Schönheit nicht von Hass und Liebe nicht von Schrecken zu unterscheiden ist – als sich seine Finger und ihre Tentakel berührten.

Wenn Dennis lächelte, schien die Sonne aufzugehen. Aber er konnte Sonnenbrillen nicht gut ertragen. Wenn die Sonne ihm ins Gesicht schien, dann schloss er die Augen zu Schlitzen, hatte Querfalten auf der Stirn und verzog auch den Mund etwas, meist zu einem Lächeln. Einmal – als er so lange in der Sonne gesessen hatte, sein Gesicht, ohne dass er es bemerkt hatte, zu einer solchen Sonnenmaske geworden war und er in die scheinbare Dunkelheit des Strandrestaurants gegangen war, um zu bezahlen – hatte sie ihn angesehen, und sein Gesicht sah in dieser kühlen Dunkelheit aus wie das eines alten faltigen Mannes. Sie erschrak im ersten Moment. Doch als sie wieder hinausgetreten waren in das Sonnenlicht, wirkte er jung wie vorher.

Sie hatte ihn lange und immer wieder angesehen, während sie weitergeschlendert waren, hatte sich jede Pore eingeprägt, jede Falte, jeder Erhebung in seinem Gesicht. Sie wollte sich das alles merken, wollte nichts, was ihn ausmachte, je vergessen. Sie hätte ihn gern bei der Hand genommen. Sie tat es einfach, während sie ihre winkenden Eltern am Ende der Straße gesehen hatten und ihnen langsam entgegen gingen. Dennis hatte sie angesehen und gelacht, hatte gleichzeitig seine Hand weggezogen und sie geschubst. Sie kebbelten, sie lachten.

Sie hatten sich zum Gehen erhoben. Die Tochter drückte den alten Mann, als wolle sie ihn nicht mehr loslassen. Sie weinte so sehr, dass sie nicht mehr sprechen nur noch schluchzen konnte. „Meinst du etwa, er war krank?“ flüsterte sie ihm fragend ins Ohr. Er schüttelte den Kopf. „Melancholie?“ stellte er fragend fest. Sie gingen. Er begleitete die beiden zur Tür und reichte ihnen noch einmal die Hand. Ihre ließ er nicht mehr los. „Mach dir keine Vorwürfe“, sagte er zu ihr. „Eine gewisse Art von Liebe kann keiner kontrollieren. Aber jeder ist froh, wenn er das Fieber spürt.“ Sie sagte nichts. Ihr Begleiter fühlte sich unwohl.

Die beiden gingen dem Auto entgegen. Der junge Mann nahm die Frau in den Arm. „Was hat er gemeint?“ fragte er verunsichert. „Nichts“, sagte sie. Sie stiegen in den Wagen. Er schlug auf das Lenkrad. Sie zuckte zusammen. „Ich dachte, es wäre ein Unfall gewesen. Was ist das für eine Geschichte?“ Sie saß starr da und antwortete nicht. „Warum sollte sich dein Bruder umbringen? Er war doch auch ein Superschwimmer, denke ich. Ein Unfall? Oder hat er einen Spleen gehabt?“ Sie weinte schluchzend: „Du verstehst gar nicht. Nichts. Nichts. Nichts!“ Sie hielt beide Hände vor das Gesicht.

So saßen sie eine Weile da. Sie sah ihren Vater am Fenster. Es war still bis auf ihr im Auto leise widerhallendes Wimmern, das man für die Laute eines verletzten Tieres hätte halten können oder für ein weinendes Baby. Er saß steif und verkrampft da. Er hätte sie gerne in den Arm genommen aber er hatte Angat vor ihrer ablehnenden Reaktion, die er nur zu gut kannte. Sie erlaubte ihm nicht, sie zu trösten. Er hatte die Arme ausgestreckt und hielt mit den Händen das Lenkrad fest. Irgendwann fasste sie sich. Er reichte ihr ein Taschentuch.

„Er ist gestorben, weil er die Schönheit gefunden hat“, sagte sie mit brüchiger Stimme. Draussen wurde es langsam dunkel. Aber der Himmel leuchtete noch nach wie an einem Sommertag. „Warum war er dann nicht glücklich?“ fragte er hilflos. Und dann nach einer Weile, in die sie hineingeschwiegen hatte: „Ich fahre schon mal los, ok? Sonst wird es zu spät.“ Sie nickte.

Als er vom Grundstück auf die Straße abbog, antwortete sie: „Weil es das schlimmste ist, wenn man die Schönheit einmal gesehen hat und nie wieder haben kann.“ Er nickte beiläufig, musste sich aber gerade auf den Verkehr konzentrieren. „Die Schönheit, die er einmal gesehen hatte, war ich gewesen.“ Sie sah ihn bange an. Aber er hatte ihr nicht zugehört. Er fluchte über einen Autofahrer, der ihn überholt hatte und so vor ihm in seine Spur eingebogen war, dass er abbremsen musste. „Was hast du gesagt?“, fragte er danach mit Blick auf die Straße. Sie schien erst antworten zu wollen aber dann sah sie eine Bäckerei. „Halt nochmal eben an“, rief sie. Er nickte: „Ach, ja, gut dass du dran gedacht hast, hätte ich fast vergessen.“

Nachdem er den Wagen gestoppt hatte, ging sie in den Laden und suchte einige Stücke Kuchen aus. Sie zog ihr Portemonnaie aus der Tasche und bezahlte. Als sie den Laden verlassen hatte, hielt sie das Portemonnaie noch in der Hand. Sie öffnete die Beifahrertür, legte den Kuchen auf den Sitz und sagte, dass sie sich wohl doch noch mal frisch machen müsse. Er nickte, stieg aus. Sie gingen in das Café neben der Bäckerei, bestellten einen Kaffee, worauf sie schnell auf der Toilette verschwand. Sie verriegelte die Kabinentür, setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel, öffnete ihr Portemonnaie und zog aus einem unsichtbaren Einschub hinter dem Kleingeldfach das kleine Foto von Dennis heraus. Sie betrachtete das Bild eine zeitlang und hauchte einen angedeuteten Kuss darauf. Sie sah es nochmal ganz genau an. Es war schwarzweiß aber sie konnte seine bronzefarbene Haut sehen, seine Locken, konnte seine angenehme Stimme hören, wie er mit einer Schlange sprach. „Adam“, hauchte sie dem Bild entgegen. So hatte sie ihn damals einmal genannt. Adam. Sie dachte auch daran, wie er sie genannt hatte.

Sie stellte erschrocken fest, dass sie die Zeit vergessen hatte. Sie machte sich schnell etwas zurecht und ging zurück zu ihrem Freund. Als sie ihren Kaffee ausgetrunken hatten, hatte er gesagt: „Wir müssen…“ Dann hatten sie bezahlt und waren schnell losgefahren, um die anderen rechtzeitig zu treffen.