Durchleucht

Jean-Pierre, der neue Haushälter, führte gerade die weiße Ziege auf dem 16 Hektar großen Gelände spazieren, als er eine Frau und zwei Mädchen am hinteren Tor sah. Beim Näherkommen entpuppten sie sich als ein Mann und zwei Jungen. Es war gerade „Metrosex“-Stil in Mode und dieser Mann huldigte ihm offensichtlich. Er trug das Haar lang mit einem über die obere Gesichtshälfte drapierten Seitenscheitel und brauchte bestimmt Haarspray. Seine Stretchjeans ließen seine Beine unendlich dünn aussehen. Dazu trug er Sportschuhe. Seine beiden Söhne waren kleinere Kopien seiner selbst. Jean-Pierre durfte niemanden hereinlassen und auch nicht „mit Fremden reden“. Er hatte ganz strenge Order bekommen. Aber er war neugierig. Er ging zum Tor. Die Ziege war noch neugieriger, streckte ihren Kopf durchs Tor und versuchte festzustellen, ob die Besucher salzig waren.

Vielleicht wäre es taktisch klug, hier erst mal zu erklären, welche Bewandtnis es mit der Ziege hat. Auf einem ihrer Raubzüge durch die Dachböden und Flohmärkte des ländlichen Frankreichs geriet Marga auf einen Viehmarkt. Ein weißes Zicklein tat es ihr sehr an, es hieß Marguerite, wie sie selbst. Es sei ein Zwergzicklein und würde klein bleiben, wie eine Bonsaiziege, sagte der Verkäufer. Also kaufte Marga die Ziege und legte sie in die Arme ihres Haushälters, der immer drei Schritte hinter ihr ging. Sie stellte sich vor, wie spektakulär das Tier in einem barocken Kleidchen aussehen würde. Erstmal pinkelte die Ziege auf Jean-Pierres Anzug. Der nahm es mit Fassung. Die Ziege wuchs und wuchs und entwuchs der einigermaßen leicht zu reinigenden Küche des Schlosses, wo Marga sie gehalten hatte. Fortan oblag die Sorge für das Tier vollständig Jean-Pierre, der sein Bestes tat, ein guter Ziegenvater zu sein. Seine Frau wollte allerdings nicht, dass das Tier ins Haus kommt. Die Ziege zog also in einen der Ställe, blieb aber weiterhin sehr anhänglich und sah in Jean-Pierre ihre Mutter. Jeden Tag verbrachte Jean-Pierre mehrere Stunden draußen mit der Ziege. Manchmal ging er mit der Ziege an der Leine ins Dorf. Marga erwartete, dass ihr Haushälter berühmt werden würde, wegen der Ziege, sowie sie damals mit Griselidis, ihrem Mops, berühmt geworden war.

Zu Griselidis komme ich ein anderes Mal. Jetzt zurück zu den drei Besuchern. Der Metrosex-Mann begrüßte Jean-Pierre überschwänglich und stellte sich mit „Argentin de Bavay“ vor. „Und das sind meine beiden Söhne Charles und Victor.“ Die Söhne deuteten daraufhin eine Art Verbeugung an. Argentin de Bavay fragte, ob das Schloss zu verkaufen sei. Er habe die Geschichte des Schlosses schon seit Jahren verfolgt und es sei sein Traum, es eines Tages zu besitzen. Er kenne auch Marga, wenngleich sie ihn nicht kenne. De Bavay habe ihre Geschichte verfolgt und würde sich geehrt fühlen, sie persönlich kennenzulernen. Jean-Pierre hatte nicht gewusst, dass es bezüglich Marga eine verfolgenswerte Geschichte gab. Er hatte schon von Griselidis gehört, aber das war doch damals in Australien gewesen, im Lokalfernsehen. Er bat de Bavay zu warten und ging los, um Marga zu fragen, ob sie den Besucher zu sehen wünsche. Der Haushälter erwartete eigentlich, dass sie ihn anschreien würde, weil er mit Fremden geredet hatte. Aber nein, Marga, im Nachthemd, bat Jean-Pierre, den Besucher eine halbe Stunde hinzuhalten, sie müsse sich noch zurechtmachen, aber dann wolle sie De Bavay empfangen. Also hielt Jean-Pierre die Besucher hin und lauschte Argentins Bericht über dessen Schloss im Südosten Frankreichs. Jean-Pierre bat seine Frau, den Fremden eine Tasse Kaffee zu machen. Sie sprachen über das Wetter und die Ziege. Jean-Pierre fragte, ob de Bavay von Griselidis gehört hatte. Das war aber nicht der Fall. Dann trat Marga in ihrem schönsten Kleid aus dem Schloss heraus und winkte den Besuchern huldvoll zu. De Bavay eilte zu ihr, schnappte ihre Hand und schlabberte sie intensiv ab, wobei er die Frau mit Komplimenten überschüttete. Margas Augen leuchteten darob und sie errötete. Dann verschwand sie mit den Besuchern im Schloss. Schon nach etwa einer Stunde gingen die Besucher wieder. Am nächsten Tag würde de Bavay aber mit Marga zum Essen gehen. Er wollte wirklich das Schloss kaufen. Vielleicht war er aber auch anderen Sachen gegenüber nicht abgeneigt. Er war verheiratet. Aber seine Frau war gerade geschäftlich unterwegs.

Sie gingen ins Restaurant Château Grand Barrail. De Bavay fuhr Marga hin und zurück und er bezahlte das teure, mittelmäßige Essen. Er erzählte ihr, dass er das Schloss schon immer habe besitzen wollen, seit er vor 20 Jahren ein Foto von dem Gebäude sah. Sie sei nicht abgeneigt, es zu verkaufen, gab Marga zu. Sie war es leid, sich allein mit den Handwerkern und Haushältern herumzuschlagen. Die waren alle unverschämt und unfähig. De Bavay schlug ihr vor, mit ihm zusammen ein Buch über das Barock zu schreiben. Dann brachte er sie heim und wir sind natürlich viel zu diskret, um ihnen ins Schloss zu folgen und zuzuschauen. Wahrscheinlich recherchierten sie für das Buch. Naja gut, wahrscheinlich nicht, oder wenn, dann recherchierten sie vielleicht für das Kapitel über Sex, falls Marguerite dessen Existenz im Barock erlaubte, aber ich will mir das gerade nicht vorstellen müssen. Vielleicht ein andermal.

Am nächsten Tag fing Marga an, ein Buch zu schreiben. Über die – natürlich frei erfundene – Geschichte ihrer Familie. Sie schrieb nicht selbst. Sie diktierte alles Jean-Pierre, der außerdem Recherchen durchführen musste, wenn Marga nicht mehr wusste, in welchem Jahrhundert ihre Familie gerade lebte. Und er merkte sich auch die angeblichen Namen der Ahnen.

Am 26. Januar 1788 kam Margas Ur-Ur-Ur-Uroma nach Australien. Marguerite Boddington. Die uneheliche Tochter eines französischen Adeligen – nein, streich das, des Königs – war als Kind nach England verschleppt worden und geriet ins Elend. Sie arbeitete als Kindermädchen und wurde unschuldig des Diebstahls bezichtigt. In Wirklichkeit hatte ihre Arbeitgeberin ihrem eigenen Mann die Uhr gestohlen, um ihn gegen das wunderschöne, schwarzhaarige Kindermädchen aufzubringen. Was auch geklappt hatte, denn Marguerite wurde nach Australien verschifft. Eine furchtbare Überfahrt mit lauter Proleten und richtigen Verbrechern. Sie überlebte die Fahrt nur, weil sie den Matrosen Lesen und Schreiben beibrachte, chinesischen Matrosen. Die beschützten sie im Gegenzug gegen Vergewaltiger und dergleichen. In Australien arbeitete sie als Näherin – zumindest hatte sie das behauptet – und heiratete einen Offizier. Da inzwischen die Französische Revolution ausgebrochen war, hätte sie sowieso nicht nach Frankreich zurückgehen können.

Sie hatte zwei stattliche Söhne, von denen der eine Zahnarzt und der andere Sklavenhändler wurde. Beide waren sehr reich und gut angesehen. Der Zahnarzt heiratete leider unter seinem Stand, ein ganz normales Mädchen vom Land und bekam daher ganz normale Kinder. Daher befassen wir uns nun nicht mehr mit ihm. Der Sklavenhändler heiratete die Tochter eines Häuptlings der Salomonen-Inseln und bekam mit ihr einige Kinder, darunter die Ur-Uroma von Marga. Er setzte sich früh zur Ruhe und war aktiv in der Pfarrgemeinde seines Heimatorts tätig.

Margas Ur-Uroma Renitentia erregte einiges Aufsehen als exotische Tänzerin, bevor sie den Mann ihres Lebens traf, einen Tuchhändler aus Marseille. Sie zog nach Frankreich und ihr Mann kaufte ein Schloss für sie. Sie starb im Kindbett im Jahre 1852. Wäre sie exotische Tänzerin geblieben, wäre ihr das nicht passiert. Ihr Mann wurde trübsinnig und ergab sich der Trunksucht, weshalb er bankrott ging und sein einziges Kind, ein Junge namens Hyacinthe (Margas Uropa), kam zu Tante und Onkel in Pflege.

Hyacinthe wurde Schneider. Er fertigte wunderschöne Anzüge und wurde sehr wohlhabend. Da Hyacinthe schwul war – was womöglich an seinem Vornamen lag – wollte er nicht heiraten. In seiner Freizeit schrieb er Theaterstücke, die manchmal sogar aufgeführt wurden, aber mehr weil der Intendant sein Kunde war. Nein, streich das, er feierte rauschende Erfolge. Viele junge Damen der gehobenen Gesellschaft wollten ihn ehelichen und da er sich fortzupflanzen wünschte, willigte er irgendwann in eine Ehe ein. Er schaffte es, mit seiner Frau zu schlafen, sie war athletisch gebaut und von hinten sah sie fast aus wie ein Mann. Außerdem war sie sehr tolerant. Hyacinthe war ebenfalls tolerant und so vergnügte sich jeder, wie es ihm gefiel.

1895 wurde Margas Opa geboren, Fernand. Hyacinthe hoffte, dass das Eisen (fr. fer bedeutet Eisen) im Vornamen seinen Sohn hart machen würde, wie Denainstahl. Denain war damals ein wichtiger Industriebetrieb in Frankreich. Hyacinthe wollte nicht, dass Fernand sich nur gezwungenermaßen mit Frauen abgab, da das sein Leben doch etwas verkompliziert hatte. Fernand wurde also hart wie Denainstahl, duschte jeden Morgen kalt und erlernte diverse Handwerke von der Pike auf bei – wie sollte es anders sein – Denainstahl. Wo er schließlich Generaldirektor wurde. Er heiratete 1921.

Er hatte zwei Kinder, für die er natürlich auch keine Zeit hatte. Jean und Marguerite. Hänsel und Gretel. Da die Kinder generell vernachlässigt und ansonsten daheim unterrichtet wurden – Geld war ja da – beschäftigten sie sich hauptsächlich miteinander, wie Siegmund und Sieglinde. Jean wurde Zahnarzt, wie sein australischer Ahn. Da er nicht Marguerite heiraten konnte und wegen des Krieges und überhaupt … gab er sich der Trunksucht hin, wie sein französischer Ahn. Er nannte seine einzige Tochter Marguerite. Und seine Tochter liebte ihn. Sie merkte nichts von der Trunksucht. Für sie war der Vater ein Gott. Daher endete dieses Kapitel auch mit Lobpreisungen seiner Kunstfertigkeit und mit Schmähungen in Richtung seiner Frau. Jean zog in den 50ern nach Australien, als alle nach Australien zogen. Marga zog mit. Während Jean bis zu seinem – natürlich viel zu frühen – Tod, der auch bestimmt durch die Kälte seiner – unwürdigen – Ehefrau verursacht worden war, niemals wirklich die Landessprache erlernte, hatte Marguerite damit keine Probleme. Schreiben war nicht so ihr Ding. „Nein, schreib das nicht, denn ich schreibe ja gerade dieses Buch und sonst meinen die Leute noch, ich würde lügen“, warf Marga ein. Jean fiel eines Tages von einer Leiter, als er ein Bild aufhängen wollte. Ein Geburtstagsgeschenk seiner Frau. Er fiel unglücklich auf eine Anrichte und brach sich dabei das Genick. Marga befahl ihrem damaligen Freund Bob, die Anrichte zu zerhacken und verbrannte die Teile des Möbelstücks eigenhändig im Garten.

Jeans Schwester Marguerite, Margas Tante, heiratete einen Juden. Als die Deutschen Frankreich besetzten, deportierten sie den Mann nach Deutschland in ein KZ, wo er starb. Die Tante floh daraufhin nach England und schließlich nach Amerika, wo sie begann, Schnulzenromane zu schreiben. Sie hielt sich Liebhaber, einen nach dem anderen und fand nie wieder selbst das Glück, über das sie ständig schrieb.

An dieser Stelle begann Marga zu weinen. Schon als sie berichtete, wie ihr Vater starb, fingen ihre Augen an, vor Tränen zu glänzen. Damit wurde sie immer noch nicht fertig. Und als sie dann daran erinnert wurde, dass sie selbst das Glück auch noch nicht gefunden hatte … „Kein Wunder“, dachte sie, „die Männer sind doch alle Waschlappen.“ Dabei meinte sie die „anderen“ Männer und keineswegs ihren Vater. Jean-Pierre legte tröstend einen Arm um sie. Der Roman war zwar absolut lächerlich, wie ein Märchen, aber zum ersten Mal erschien ihm seine Chefin wie eine Frau und er fand sie attraktiv. Sie war auch noch nicht sooo alt, oder hatte sich gut gehalten, fand er. Er streichelte ihr wildes schwarzes Haar, murmelte beruhigende Worte und spähte in ihren Ausschnitt. Es war nur ein Augenblick. Dann sah sie zu ihm auf, ihre Tränen waren versiegt, als seien sie nie dagewesen. Sie blickte ihn kalt an und machte sich los. Jean-Pierre erschrak. Vielleicht würde er nun seine Stellung verlieren, oder seine Frau. Vielleicht sollte er aber auf die nächste Gelegenheit warten und sie nutzen und Marga für sich gewinnen. Sie war reich. Er würde eine schöne (alte) reiche Frau bekommen, das klang gar nicht schlecht.

Teil 1: Voodoo
Teil 2: Es hat Füße
Teil 4: Griselidis
Teil 5: Jean-Pierres Wunsch geht in Erfüllung
Teil 6: Reinkarnierte Hunde
Teil 7: Abstürze
Teil 8: Schrecken
Teil 9: Auferstehung

Hier ist das zweite Buch Leben ohne Marga von Charlotte Palme nachzulesen:
Teil 1: Leichenschmaus
Teil 2: Relativitätstheorien
Teil 3: Jagdfieber
Teil 4: Das Frohe leben am Hofe