Swingvogel

„Kultur hängt von der Kochkunst ab.“ Oscar Wilde

Eine der Schwestern vom Pflegedienst war jedenfalls nicht bei Margas Leichenschmaus erschienen. Céline hatte ein schlechtes Gewissen. An einem besonders langweiligen Tag bei Marga hatte die junge Frau sich die Bücher in der sogenannten Bibliothek angeguckt. Dort gab es ein ganzes Regalbrett mit Büchern in Englisch. Céline war zwei Jahre lang in Kanada gewesen, aus Herzensgründen und bestimmt nicht wegen des Essens. In Kanada hatte sie einigermaßen Englisch gelernt. Nach zwei Jahren hatte sie aber Heimweh bekommen und den Kanadier ihres Herzens zurückgelassen. Manchmal dachte Céline an ihn und die englische Sprache (und Ahornsirup) erinnerte sie an die Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte. Céline nahm ein Buch aus dem Regal: „Gay Court Life: France in the Eighteenth Century“ (‚Frohes Leben am Königshof, Frankreich im 18. Jahrhundert‘). „Da das Buch von 1932 ist, handelt es wahrscheinlich nicht von Homosexuellen. Hmm, Marie-Antoinette, ziemlich langweilig.“ In dem Buch steckte ein alter, in englischer Sprache verfasster Brief: „In dankbarer Erinnerung an einen unvergesslichen Ausflug außerhalb der Zeit. Dieses Buch, dessen Wert nur in seiner lieblichen Heldin (Marie-Antoinette? Marga?) besteht, möge dir ermöglichen, die wunderbarste Zeit menschlicher Zivilisation und Kunst (das Ancien Régime? Margas Jugend?) wiederzubeleben.“ Darunter stand der Name Ruben Eli-Salomon. Das war anrührend, fand Céline. Sie zerdrückte eine Träne, stellte „Gay Court Life“ wieder zurück und nahm ein anderes Buch aus dem Regal: „The Works of Thomas Hood“ (‚Thomas Hoods gesammelte Werke‘). Die gesammelten Werke waren humoristische Gedichte, die überhaupt nicht witzig waren, sondern einfach nur fürchterlich, aber auf Seite 132 steckten drei 500-Francs-Scheine. Das war schon spannender. Céline nahm das Geld, steckte es ein und stellte das Buch zurück. Was für ein Glück, dass die Patientin nicht mehr herumlaufen konnte. Für das Geld würde sich Céline etwas Schönes kaufen. Beschwingt ging die Krankenschwester zurück in den großen Salon, wo Marga in ihrem Krankenbett lag.

Marga hatte Geldscheine in mehreren Büchern versteckt. Sie hatte ein ganz raffiniertes System, das nur sie selbst verstand und ihr Friseur. Dem hatte sie es nämlich erzählt, damals als er ihre Frisur gerettet hatte, nachdem sie sich einige Haare am Hinterkopf mit Kerzen abgesengt hatte. Da ihr Friseur vor ihr verstorben war, hatte er ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Marga hatte es auch mit ins Grab genommen. Jean-Pierre wäre vielleicht auf dumme Gedanken gekommen, wenn er Zugriff auf das Geld in den Büchern gehabt hätte. Er hätte womöglich Geld ausgegeben – manchmal kaufte er sich heimlich Backwaren – oder wäre gar irgendwohin gefahren, ohne Marga. Jean-Pierre las gern politische Bücher und niemals Romane oder gar Gedichte, außerdem verstand er kein Englisch. Daher war das Geld in englischen Gedichtbänden total sicher vor ihm. Jean-Pierre spendete nach Margas Tod einen Großteil der Bücher. Das Schloss war feucht, die Bücher würden nur verschimmeln. Er wollte armen Leuten ein bisschen Kultur zukommen lassen. Die Bücher erstanden diverse Rentner für ein paar Cent in einem Wohlfahrtsladen. Und so funktioniert Bücherverbrennung zu Heizzwecken: Bevor der Rentner oder die Rentnerin ins Bett geht, stecken sie noch eine langsam brennende Enzyklopädie oder ein ähnlich dickes Buch in den Ofen oder halt mehrere kleinere Bücher, wenn es gerade keine Enzyklopädien gibt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Bücher im Ofen sehr viel Asche produzieren, es ist daher nicht so toll, wenn man nur Bücher als Brennmaterial hat. Wenn man mit Büchern heizt, ist das zwar technisch eine Bücherverbrennung, hat aber nichts mit Ideologie zu tun und kann armen Leuten das Leben retten. In Island haben die Leute im 19. Jahrhundert gern handgeschriebene mittelalterliche Literatur als Einlegesohlen verwendet. Dagegen erscheint das Verbrennen von gedruckten Sachbüchern aus dem 20. Jahrhundert nicht ganz so dramatisch. Jean-Pierre hatte zwar nicht nur Sachbücher abgegeben, aber die meisten der englischsprachigen Gedichtbände, Dramen und Romane hatte Marga nie gelesen, sondern nur zu Dekorationszwecken gekauft, weil sie preiswert waren, als Vorläufer jener Buchattrappen, die man in Möbelhäusern in den Regalen findet.

Ein kleiner alter Herr fand in dem 1902 gedruckten schmalen Buch „Vera, Or the Nihilists“ (‚Vera oder die Nihilisten‘) von Oscar Wilde drei 500-Franc-Scheine. „Vera, Or the Nihilists“, eine eher schlechte melodramatische Tragödie, hatte wahrscheinlich noch nie zuvor jemanden so erfreut, wie diesen Rentner. Er freute sich sehr, tauschte das Geld am nächsten Tag in Euros um und kaufte sich etwas Schönes zu Essen. Man konnte jeden Tag tot umfallen und sollte jeden Moment leben, als sei es der Letzte. Margas Vater hatte immer gesagt, man soll sein Geld nicht essen – und sie hatte das zu ihrem Wahlspruch gemacht. Margas Vater hatte das Geld lieber getrunken. Da der kleine alte Herr sich auch eine feine Flasche Rotwein leistete, wäre Margas Vater vielleicht nicht enttäuscht gewesen. Marga selbst rotierte aber wahrscheinlich vor Wut in ihrem Grab.

Auch das „Frohe Leben am Hofe“ wurde mitsamt dem rührenden Brief, der sich darin befand, verkauft. Ob der unvergessliche Ausflug vergessen war, könnten wir nur von Ruben Eli-Salomon erfahren, der sich noch bester Gesundheit erfreute, wenn er auch nicht mehr der Jüngste war. Eine ältere Dame hatte das Buch mitsamt einigen anderen Werken erstanden. Sie schob das Buch in den Ofen und ging zu Bett. Während das „Frohe Leben“ anderswo verglühte, veranstaltete Vera, die neue Wächterin, ein Diner im Salon im ersten Stock des Schlosses. Das frohe Leben am modernen Hofe der Wächterin bescherte an so manchem Abend vier zahlenden Gästen unvergessliche kulinarische Erinnerungen. Ob die unvergesslichen Erinnerungen gut waren oder nicht, hängt wahrscheinlich vom persönlichen Geschmack ab und vom Ausmaß des genossenen Alkohols. Von Letzterem könnte auch die Unvergesslichkeit der Erinnerungen abhängen. Jean-Pierre war fast nie im Schloss, meldete sich auch immer brav an, wenn er doch einmal vorbeikam und das Wächtergehalt war noch so mickrig wie zu Margas Zeiten. Daher kochte Vera ein- bis zweimal im Monat gegen Bezahlung ein festliches Abendessen für ein ausgewähltes Klientel. Die Leute mussten verschwiegen sein und englische Küche mögen, denn Jean-Pierre sollte nicht von den Diners im Schloss erfahren und die Wächterin war Engländerin. Da verschwiegen relativ ist, wusste Jean-Pierre zwar nichts von diesen Ereignissen, aber dafür wusste der ganze Nachbarort Bescheid. Im Nachbarort empfand man diese festlichen Diners als ein Privileg. An diesem spezifischen Abend bekamen die vier Gäste als Vorsuppe Erbsensuppe mit Minze, dann Muscheln mit Blumenkohl und (angebrannten) Knoblauchwürstchen aus der Region, danach (schwarz)gebratene Ente mit Möhren und Meerrettich. Zum Dessert gab es Buttermilch mit Erdbeeren und zum Abschluss englischen Käse. Als Getränk wurde Mineralwasser und lauwarmes englisches Bier gereicht. Dafür hatte jeder Gast 150€ bezahlt, das war im Vergleich mit den Preisen in französischen Restaurants noch ganz günstig, immerhin aß man nicht alle Tage in einem Schloss, das man dafür auch noch so gut wie für sich allein hatte. Im Kamin brannte ein lustiges Feuerchen, das bei jedem Diner das Parkett ansengte. Hier wurden immerhin keine Bücher verheizt. An folgenden Tagen zog Vera einen Teppich als Mantel des Schweigens über die Brandflecken auf dem Parkett. Da der Schornstein über dem Salon verstopft war, musste häufig gelüftet werden. Aber das gehörte vielleicht bei einem alten Schloss dazu. Wer weiß das schon? Als Musik erklangen hauptsächlich Margas alte Mozart-CDs aus Margas Stereoanlage. Wenn das Feuer nicht gebrannt und den weiteren Erhalt des Schlosses akut gefährdet hätte, dann wäre Marga bestimmt selbst gern dabeigewesen, hätte über das Essen gelästert und auf alles eine Extraportion Pfeffer gestreut, außer natürlich, sie hätte für das Diner zahlen müssen.

Unter den heutigen Gästen war ein fremdes Ehepaar. Aurora war eine reiche Australierin und ihr Mann José war ein Kosmopolit aus Spanien. Sie hatten Marga aus der Opernzeit gekannt, hatten das aber der Wächterin verschwiegen. Sie waren nur deshalb nicht zum Leichenschmaus gekommen, da das terminlich fast genau mit ihrer dritten Hochzeit zusammenfiel. Ihre Ehen waren immer sehr leidenschaftlich und turbulent, daher hielten sie nie sehr lange. Das Paar hatte sich ein paar Flaschen Wein mitgebracht, da sie kein Bier tranken. Der Alkoholgehalt von Bier war außerdem zu niedrig. Sie hatten gut daran getan, denn lauwarmes Bier ohne Schaum ist wirklich nicht jedermanns Sache. Aurora und José waren nicht verschwiegen und würden Jean-Pierre alles berichten. Aurora würde sich ausführlich darüber beschweren, wie staubig das Schloss war. Das sagten sie Vera gleich zu Beginn. Das wäre in Australien nicht passiert, fügte Aurora hinzu. José grinste. In Spanien wäre das schon passiert. Vera schaute unglücklich drein, warf das Ehepaar aber nicht hinaus, immerhin hatten sie bezahlt. Aurora und José flirteten sehr mit den zwei anderen Gästen, die das peinlich fanden. Es war ein englisches Ehepaar mittleren Alters, das im Nachbarort ein Ferienhaus besaß und oft zu den Diners der Wächterin kam. Die Engländer hatten nichts gegen Sex, aber gegen Sex mit zwei steinalten, stockbesoffenen Unbekannten hatten sie schon etwas. Aurora gab Geschichten aus Margas Opernzeit zum Besten. Wie sie Marga mit Lanza in dessen Garderobe erwischt hatte: „Marga konnte verblüffende Sachen mit einem Sektkühler machen.“ Und ihre Zweifel am Unterricht, den Marga chinesischen Einwanderern zukommen ließ: „Rechtschreibung kann es jedenfalls nicht gewesen sein.“ Aurora und José lachten wiehernd.

Das englische Ehepaar ging nach dem Dessert schnell heim, während die Australierin und ihr Mann schließlich so betrunken waren, dass Vera ihnen im rot-weißen Schlafzimmer im zweiten Stock ein Bett richten musste. Nachts klapperten die einfach verglasten Fensterscheiben, die nur noch von rostigen Nägeln in den Rahmen gehalten wurden. Mäuse piepsten. Allerlei seltsame Geräusche erklangen in dem ansonsten leeren Schloss. Aurora und José hatten Angst und der Raum drehte sich um sie. Sie hörten Stimmen, vielleicht geisterte Marga ja in dem Schloss herum. Etwa um halb vier wankte der Spanier in Richtung Badezimmer. Auf dem Weg entdeckte er eine Flasche Château de Pommard von 1992, die aufrecht als Dekoration auf einem Tisch stand. Pommard war ein guter und teurer Wein. Also nahm José die Flasche mit zurück in das Schlafzimmer und entkorkte sie dort mit dem Korkenzieher, den er für solche Notfälle immer dabei hatte. Er goss den Wein in ein Glas und roch daran. Essig. Er probierte trotzdem. Der Wein war ungenießbar, es war eine Schande. José wankte daraufhin durchs Schloss und suchte nach weiteren Weinflaschen. Das Weinregal im Keller enthielt nur noch zwei Flaschen preiswerten Weins aus dem LIDL. Auf mehreren hübsch dekorierten Tischchen standen aufrecht ältere Rotweinflaschen renommierter Hersteller. Im Erdgeschoss fand José eine Flasche Richebourg Grand Cru von 1988. Er öffnete die Flasche. Der Wein war ebenfalls zu Essig geworden. José begann zu weinen. Marga hatte sich offensichtlich darauf spezialisiert, teure Bourgogne-Weine durch schlechte Lagerung in Essig zu verwandeln. Im ersten Stock entdeckte José eine Flasche Romanée-Conti von 1979. Die öffnete José nicht mehr, denn sie war bestimmt auch Essig. Man konnte sie aber noch verkaufen, also nahm José die Flasche mit und verstaute sie in der alten, braunen Spikes & Sparrow-Aktentasche, die er immer bei sich führte, seitdem Aurora sie ihm an ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. José war romantisch. Danach musste er aber wirklich dringend Margas Badezimmer aufsuchen. Dort kotzte er in das tulpenförmige, goldene Waschbecken und blockierte so den Abfluss. Sein Kopf drohte zu platzen, der Schmerz war schlimmer als seine Angst und als die Traurigkeit über die Verschwendung und so war José recht dankbar, als er Margas alte Aspirinpackung auf der Fensterbank entdeckte. Sie hatte die 1917 hergestellte Packung dereinst in einer Auktion erstanden und hatte es witzig gefunden, sie als Dekoration zu verwenden. Die Packung sah anders aus, als die, die er kannte, aber auf den Tabletten war der Schriftzug „Bayer“ aufgedruckt. Das beruhigte José. Er schluckte zwei Aspirin, steckte vorsichtshalber die Packung ein und wankte zurück zum Schlafzimmer. Aus dem Augenwinkel sah er eine Gestalt in einem roten Kleid. Er hielt sich am Türrahmen fest und fragte zaghaft: „Marga, bist du das?“ Ein Heulen erklang draußen vor dem Fenster. Das musste der Kauz sein, der den Dachboden bewohnte. Oder? Dann entdeckte José die Umrisse eines weißen Tieres. Das musste diese infernalische Ziege sein, die Marga früher hatte. Wahrscheinlich eine Ausgeburt der Hölle und die Hölle war garantiert der Ort, an dem sich Marga nun aufhielt. José war katholisch erzogen worden und wenn er sich schwach fühlte, dann kamen die Erinnerungen an diese Erziehung wieder in ihm hoch. Er schlug ein Kreuz vor der Brust und murmelte ganz automatisch den Text des „Ave Maria“. Zitternd kroch der Spanier zurück ins klamme Bett zu Aurora, die wach wurde und erklärte, sie fände es süß, dass José sie als „gebenedeit“ bezeichne. Dann schlief sie wieder ein. José machte aber praktisch kein Auge mehr zu.

Sonnenbrille

Am Morgen entdeckte José die Pappfigur von Marga im roten Organza-Abendkleid. Sie stand im großen Salon im Erdgeschoss. José wusste nicht mehr, ob er den roten Schatten dort gesehen hatte. Es gab eine weiße Holzziege im zweiten Stock. José nahm an, dass er in der Nacht mehrfach durch das ganze Schloss gewankt war. Bestimmt war Marga in der Hölle, aber darüber wollte er nicht nachdenken, denn womöglich hatte er auch nicht immer nach den Zehn Geboten gelebt. Aurora hatte seltsame Träume gehabt. Ein Vogel in rotem Kleid sang die Arie der Königin der Nacht. Die Nacht war lang und dunkel gewesen sowie gleichzeitig zu kurz und voller Kopfschmerz. Aurora und José würden Jean-Pierre nichts erzählen, denn womöglich käme das Waschbecken zur Sprache, ihr eigener Zustand oder die fehlenden Gegenstände. Die Australierin hatte sich eine große Sonnenbrille aus den 80er Jahren von Marga geliehen, als Erinnerung und vor allem, damit die unbarmherzige provenzalische Sonne ihr nicht das Gehirn herausbrannte. Hinter der Sonnenbrille verschwand die ganze obere Hälfte ihres Gesichts.

Vera sah dem Taxi nach, in dem die beiden Fremden weggekarrt wurden. Sie würde nie wieder Ausländer beim Diner zulassen. Vielleicht würde sie überhaupt kein Abendessen mehr im Schloss veranstalten. Dann fand die Wächterin das Chaos, das die Fremden im Schloss hinterlassen hatten. Sie fluchte. Hoffentlich hatten diese Säufer nichts geklaut. Die Sonnenbrille fiel ihr ein. Hoffentlich hatten diese Säufer nichts Wertvolles geklaut.

Hier ist das erste Buch Leben mit Marga von Charlotte Palme in neun Teilen nachzulesen:
Teil 1: Voodoo
Teil 2: Es hat Füße
Teil 3: Marga schreibt ein Buch
Teil 4: Griselidis
Teil 5: Jean-Pierres Wunsch geht in Erfüllung
Teil 6: Reinkarnierte Hunde
Teil 7: Abstürze
Teil 8: Schrecken
Teil 9: Auferstehnung

Hier ist das zweite Buch Leben ohne Marga von Charlotte Palme nachzulesen:
Teil 1: Leichenschmaus
Teil 2: Relativitätstheorien
Teil 3: Jagdfieber