Morbus Hochzeit

Jean-Pierres Frau verließ ihn. Er merkte es kaum. Er musste sich jetzt allein um die Ziege kümmern. Im ersten Moment fürchtete er, dass Marga ihn hinauswerfen würde, daher machte er ihr einen Heiratsantrag und behauptete, seine Frau sei auf Marga eifersüchtig gewesen. Er hatte sich zu diesem Anlass besonders enge Klamotten angezogen, um seine Vorzüge zur Schau zu stellen. Marga hatte eine anstrengende Woche im Geschäft gehabt. Ein bisschen Entspannung war jetzt genau richtig. Jean-Pierre hatte etwas Gutes gekocht, Curryhuhn mit Reis. Marga zeigte ihm, was man mit einem Katheter alles anstellen konnte. Sie tranken australischen Wein und dann sagte sie schließlich „Ja“. Jean-Pierre war sich nicht mehr so sicher, ob er es wirklich wollte, was vor allem am Katheter lag, tat aber so, als sei er der glücklichste Mann der Welt. Den Rest der Nacht musste er trotzdem in seinem eigenen Bett im Bedienstetenhaus verbringen. Am Morgen brachte er Marga das Frühstück. Marga war in Tränen aufgelöst und gab an, so nicht heiraten zu können. Er fragte, was denn falsch sei und sie zeigte ihm ihr rotes Organza-Kleid, das sie noch aus der „Opernzeit“ hatte. Es passte ihr nicht mehr. Sie wollte aber unbedingt in diesem Kleid heiraten. „Aber es ist rot“, wagte Jean-Pierre einzuwerfen. „Das ist egal“, kreischte sie, „ich bin sowieso keine Jungfrau mehr. Griselidis soll stolz auf mich sein.“ Dabei flossen ihr die Tränen über das Gesicht. „Nanana“, sagte Jean-Pierre und nahm sie in die Arme, „Du kannst das Kleid doch ändern lassen.“ Marga ballte ihre Hände zu kleinen Fäusten und trampelte auf der Stelle herum. Es dauerte Stunden, bis sie sich beruhigte und dann sagte sie: „ich werde die Ballerina-Diät machen.“ „Wie bitte?“ fragte Jean-Pierre, der genau wusste, dass Marga sich am liebsten gar nicht bewegte. Sie wollte nicht zu Fuß gehen und wenn, dann nur sehr langsam. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass sie tanzte.

Marga hatte aber eine Freundin, die eine Ballettschule in Sydney hatte. Sie kannten sich noch aus der Opernzeit. Die Freundin sei dünn, also sei eine Ballerina-Diät eine erfolgversprechende Sache. „Okay“, dachte Jean-Pierre und verdrehte seine geistigen Augen. Dann fragte er, wie denn die Ballerina-Diät aussehe. Morgens Haferflockenbrei mit Ahornsirup und Kaffee, mittags Tomatensalat und abends Hühnchen mit Brokkoli oder Reis. Das würde er doch wohl hinkriegen. Jean-Pierre war sich sicher, dass sie sich die Diät gerade ausgedacht hatte, sagte aber nichts und kochte, was von ihm gewünscht wurde. Er war von nun an für Margas Ernährung zuständig, ihr Chauffeur war er natürlich weiterhin. Jetzt durfte er aber auch mit ins Geschäft gehen. Marga betrat das Geschäft und rief laut, dass es alles ganz unordentlich und dreckig sei in dieser „Klitsche“. Dann weidete sie sich am Erröten ihrer Verkäuferinnen und den befremdeten Mienen einiger Kunden. Als eine Kundin eine Vase umtauschen wollte, da sie gar nicht – wie versprochen – aus Marmor sei, fragte Marga die Kundin, ob sie Jüdin sei, dass sie sich beschwerte, dass eine Vase für 15 Francs nicht aus echtem Marmor sei. Jean-Pierre schämte sich für Marga, sagte aber nichts und stellte sich innerlich auf eine harte Zeit ein. Wahrscheinlich würde das alles nach der Heirat besser, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Nachdem die Kundin das Geschäft fluchtartig verlassen hatte, fügte Marga noch hinzu, dass es komisch sei, dass die Frau am Freitag in den Laden gekommen sei, wo die Juden doch freitags Ramadan haben und deshalb nicht aus dem Haus dürften. „Für Geld tun sie einfach alles“, schloss Marga ihren Vortrag über die Bräuche der Juden. Jean-Pierre hatte sein Gehör auf Durchzug gestellt und bewahrte ein ausdrucksloses Gesicht. Er brummte ab und zu ein zustimmendes „hmm“. Dann führte Marga ihren zukünftigen Gatten nach hinten in die Werkstatt und zeigte ihm, wie man Grabvasen mit Marmormuster bemalte.

Bis zur Hochzeit hatte Marga ihr Idealgewicht erreicht oder das Kleid hatte ihr ohnehin noch gepasst. Jedenfalls heiratete sie in ihrem roten Organza-Kleid im Standesamt. Marga verbat sich eine große Feier mit dem Hinweis, dass das zu teuer sei. Sie feierten im kleinen Kreis, mit zwei Pärchen, die mit Magda befreundet waren, ein schwules Pärchen und ein Heterosexuelles. Sie hatte inzwischen neue Wächter eingestellt und die kochten für die Hochzeitsgesellschaft. Als Hochzeitsgeschenk gab Jean-Pierre seiner Liebsten eine junge Mopshündin namens „Highheels“ (sprich: Ei-Iels). Marga fand das Hündchen ganz reizend. Die Schwulen kannte Marga noch aus der Opernzeit und der eine von ihnen, Argentin, gab Geschichten von damals zum Besten. So erfuhr Jean-Pierre mehr als ihm lieb war über die Beziehung von Marga zu dem dicken Opernsänger. Bis heute sei sie nicht darüber hinweggekommen, dass der Sänger damals bei seiner Frau bleiben wollte, flüsterte Argentin schließlich nahe an Jean-Pierres Ohr, so dass nur er es hören konnte. Singen konnte Jean-Pierre nicht und berühmt war er auch nicht. Das heterosexuelle Paar stritt sich die ganze Zeit oder lachte. Sie tranken viel zu viel und erzählten von ihren Trennungen. Sie waren jetzt zum vierten Mal miteinander verheiratet. Der Mann war Spanier und die Frau Amerikanerin, sie waren Kunden von Marga. Immerhin hatten sie nichts mit Opern zu tun, fand Jean-Pierre. Am nächsten Tag nach dem Frühstück fuhren alle heim. Man gab sich Küsschen und umarmte sich. Kaum waren die Gäste außer Sichtweite begann Marga, über sie zu lästern.

Und so lebten sie zu dritt – nachdem die Ziege eines natürlichen Todes gestorben war – mehr oder weniger glücklich und zufrieden. Jean-Pierre ging mehrmals täglich mit Highheels spazieren und Marga führte ihren Mann in die Welt der „Antiquitäten“ ein. Bald begann sich Marga wieder zu langweilen, sie dekorierte das Schloss um und bemalte die Wände mit Blumenranken und blau-weißen Mustern, die sie „chinesisch“ (eines Tages erkläre ich das mit den Chinesen) nannte. Es sah in etwa aus wie die Rache des Dr. Fu Man Chu, wenn auch nicht so gut wie Christopher Lee.

Im Laufe der Zeit wechselten Margas Diäten etwa alle sechs Monate. Es kam der Tag, an dem Jean-Pierre Süßwaren heimlich im Keller verzehrte. Die Wächter fanden Rosinenschnecken im Schraubenfach und Kekse beim Schuhputzzeug. Alkohol war inzwischen verboten. Der australische Wein wurde zu Essig, da es dekorativer war, ihn aufrecht zu lagern. Unter den Socken versteckte Jean-Pierre eine Flasche bayrisches Bier, die er einmal geschenkt bekommen hatte. Als Marga beschloss, glutenfrei zu essen, und es daher nur noch nach Kohl riechende, kalte Gemüsesuppe gab, rebellierte Jean-Pierre. Er bekam einen Nervenzusammenbruch und lieferte sich selbst in ein Krankenhaus ein. Dort erzählte er alles seinem Bettnachbarn, der ihn sehr bemitleidete. „Wie man sich bettet so liegt man“, war dessen trockener Kommentar.

Marga brauchte derweil dringend einen Chauffeur und geriet ein bisschen in Panik. Jean-Pierre hatte sich unentbehrlich gemacht mit seinem Diensteifer und seiner Unterwürfigkeit. Sie erklärte den Wächtern, dass die ganze Familie ihres Mannes unter Wahnvorstellungen litt und dement sei, was nun wahrscheinlich auch ihrem Mann passiert war. Mit dieser Begründung rekrutierte sie den männlichen Wächter als Chauffeur und ließ sich wieder von der weiblichen Wächterin das Essen zubereiten.

Der Bettnachbar im Krankenhaus riet Jean-Pierre, Pilzgerichte zuzubereiten oder einen neuen Brunnen zu graben. Die Treppe sehr zu bohnern und zu wachsen. Es würde nur ein kleiner Stoß genügen, ein Antippen. Jean-Pierre dachte an Ballerinas. Dann entließen sie ihn aus dem Krankenhaus. Er war ja vollkommen gesund. Er fuhr heim. Da er im Auto saß, war das nicht ganz so, als würde er kriechen. Immerhin. Auf dem Heimweg fuhr er bei seiner Bank vorbei und hob Geld ab, danach fuhr er bei einem Bekannten seines Bettnachbarn vorbei. Von dem kaufte er eine Walther PPK, die hatte er schon immer gewollt. Es war ihm egal, was Marga sagen würde. Die Wächter sahen ihn seltsam an, als er auf das Schlossgrundstück fuhr. Da war der Verrückte wieder. Marga war offensichtlich erfreut, dass er wieder da war. Sie sagte es zwar nicht, aber sie keifte auch nicht. Sie keifte erst eine Woche später, als sie bemerkte, dass er Geld abgehoben hatte. Es lag ihm auf der Zunge, zu antworten, dass er zu Prostituierten gegangen sei. Er schluckte die Erwiderung aber herunter und zeigte ihr schließlich die Walther. Er zielte damit auf sie und dann merkte er, dass er brüllte.

Teil 1: Voodoo
Teil 2: Es hat Füße
Teil 3: Marga schreibt ein Buch
Teil 4: Griselidis
Teil 6: Reinkarnierte Hunde
Teil 7: Abstürze
Teil 8: Schrecken
Teil 9: Auferstehung

Hier ist das zweite Buch Leben ohne Marga von Charlotte Palme nachzulesen:
Teil 1: Leichenschmaus
Teil 2: Relativitätstheorien
Teil 3: Jagdfieber
Teil 4: Das Frohe leben am Hofe