Essenz

Jean-Pierre und Marga gingen mit Argentin in Marseille essen. In einem teuren Restaurant, denn Argentin bezahlte das Essen, aber nicht die Getränke. Marga bestellte deshalb Wasser. Aber Jean-Pierre löckte wider den Stachel und bestellte sich einen Whisky. Während Argentin Marga ermutigte, Unsinn über das Barock zu reden, bestellte sich Jean-Pierre noch einen Whisky. Irgendwann fing Jean-Pierre an, auf Argentin einzureden … über die Frauen und über Politik. Argentin versuchte zuerst, höflich zu antworten. Da Marga gleichzeitig auf ihn einredete, ergab sich aber ein Problem. Beiden, Marga und Jean-Pierre, schien nichts daran zu liegen, dass Argentin etwas sagte. Es reichte, wenn er Zustimmung brummte und nickte, aber das wollten beide von ihm haben. Technisch schwierig bis unmöglich, außer für siamesische Zwillinge. Argentin hatte nur einen Mund und daher war er fast froh, als Jean-Pierres Kopf plötzlich nach vorne sackte und mit der Stirn voran in die weiße Austernsuppe fiel. Nun war Ruhe. „Butter bei die Austern“, murmelte Argentin ein wenig überrascht. Eine freie Übersetzung des französischen Sprichworts „Quand la soupe est faite, il faut souper“, wörtlich: wenn die Suppe fertig ist, muss man essen. Marga wirkte nicht amüsiert. Sie winkte einen Kellner herbei, der ihren Mann aus der Suppe zog. Dann flößte Marga Jean-Pierre einen Espresso ein. Das Ehepaar musste ein Taxi nehmen. Sie schliefen in der Wohnung über dem Laden. Am Morgen erklärte Marga, dass Jean-Pierre nie wieder Alkohol trinken würde, da er offensichtlich ein gesundheitliches Problem habe. Dann erläuterte sie ihm, dass seine Familie, die sie noch nie gesehen hatte, durchweg aus Verrückten bestand. Jean-Pierre wehrte sich nicht. Er hatte Kopfschmerzen und Durst. Leitungswasser war immerhin ausreichend vorhanden.

Jean-Pierre hatte wirklich ein Problem mit Alkohol. Seine Eltern waren Bretonen. Den Bretonen, Iren und ganz allgemein den Kelten sagt man nach, dass die Frauen in den Familien das Sagen hatten und daher die Männer oft zum Alkohol griffen. In seiner Jugend hatte Jean-Pierre ziemlich viel getrunken und Experimente mit Drogen gemacht. Das war aufregend gewesen. Dabei hatte er daheim gar keine Frau gehabt. Das war dann wohl doch nicht immer nötig. Jetzt gerade fand er aber, dass eine herrschsüchtige Frau ganz klar vorhanden war und das erschien ihm ein ausreichender Grund, eben doch zu trinken, wenn es sich so ergab. Was wollte sie denn noch von ihm? Er fuhr sie in der Gegend herum, kochte, machte das Licht an und aus, fütterte die Reinkarnationen und ging mit ihnen spazieren. Den ganzen Tag musste er sich anhören, wie Marga über Gott und die Welt schimpfte und da hatte er es doch wohl verdient, ab und zu ein Gläschen zu trinken. Jean-Pierre sagte aber nichts, also dachte Marga, dass er ihr zustimmte.

Sobald Jean-Pierre halbwegs wieder hergestellt war, fuhren sie zum Schloss zurück. Beim nächsten Abendessen mit den Schlosswächtern trank Jean-Pierre Wein. Marga merkte es zuerst gar nicht. Sie redete zu der Wächterin über „Frauenthemen“, erlaubte Farben von Blumen, wie man mit Kreativität Geld verdienen kann, Hundereinkarnationen, Engel gegen Wasserschaden, Gesundheitsprobleme, die angeblich durch bessere Einsicht hätten vermieden werden können. Bei der Erwähnung von Morbus Dupuytren starrte Marga hasserfüllt auf die Hände der Wächterin und zeigte dann ihre eigenen Hände zum Beweis, dass Kälte Morbus Dupuytren verursacht und die Erkrankung daher durch Handschuhe vermieden werden kann. Was natürlich kompletter Blödsinn ist. Dabei tranken Marga und Jean-Pierre ein Glas Weißwein nach dem anderen. Es gab zum Hauptgang gebratenes Huhn, da Marga nur weißes Fleisch essen mochte, ohne Knoblauch natürlich, aber dafür mit viel Pfeffer, „australischem Pfeffer“, wie sie ihn scherzhaft nannte. Marga durfte soviel trinken, wie sie wollte, sie benahm sich ja nicht daneben. Jean-Pierre hingegen dachte sich, dass sie nicht bemerken würde, wenn er trank, weil sie selbst betrunken war. Diesmal vermied er es, in die Suppe zu fallen. Marga hatte aber wohl doch etwas bemerkt, denn kaum waren sie nach dem Abendessen zurück im Schloss, fing sie an, zu zetern und zu schimpfen. Da Jean-Pierre betrunken war, schimpfte er zurück und schließlich schrien sich die beiden so laut an, dass man es noch draußen hören konnte.

Am Morgen ging Marga in gemessenem Schritt zum Wächterhäuschen. In ihrer zarten rechten Hand mit den krummen Fingern trug sie einen kleinen Plastikbeutel mit Hundehaaren, die sie mühsam zusammengebürstet hatte. Sie wollte der Wächterin beweisen, was für eine faule Putzfrau sie doch war (die Wächterin, nicht etwa Marga). Die Wächterin verstand erst nicht, was Marga von ihr wollte, dann, als sie begriff, lief sie rot an und hätte Marga wohl hinausgeworfen, wenn sie nicht in deren Haus gewohnt hätte. So hatte sie noch niemand beleidigt. Wo denn der Wächter sei, fragte Marga. Die Wächterin war noch ganz schockiert und sagte, dass ihr Mann Jean-Sebastien am Wassergarten sei. Marga ging zum Wassergarten. Dort stand Jean-Sebastien und schnitt überhängende Äste ab. Gerade fiel ein dünner Zweig, den er abgeschnitten hatte, in den Kanal. Da begann Marga zu schreien wie am Spieß. Jean-Sebastien dachte, sie habe vielleicht eine Spinne oder einen Skorpion gesehen. Aber als Margas Schreien in verständliche Worte überging, hörte er: „Daaaas ist ein Barooockgarteeeen, da darf man nichts abschneideeen! Duuu hast alles zerstööört!“ Jean-Sebastien versuchte noch zu erklären, dass fallendes Laub den Kanal verschlamme, wurde aber übertönt und sagte daher nichts mehr. Er schloss ratlos den Mund. Als Marga endlich fertig war, sagte Jean-Sebastien noch: „Wars das jetzt?“ Marga antwortete: „Ja, das wars.“ Der Wächter ging daraufhin ins Haus, wo er seine weinende Frau vorfand. Er umarmte sie und fragte, was los sei. Dann erzählten sich die beiden ihre Marga-Erlebnisse und beschlossen, dass es Zeit sei, weiterzuziehen, beziehungsweise zurückzuziehen. Sie riefen ihren alten Vermieter an und hatten Glück, ihre alte Wohnung war noch nicht neu vermietet worden. Sie packten also ihre Sachen und machten sich davon.

Damit hatte Marga dann doch nicht gerechnet. Wie sollte man denn ohne Wächter auskommen? Das war ja schlimmer als ohne Mann, der idealen Chauffeur- und Koch-Kombination. Jean-Pierre vertrug Alkohol wirklich nicht so gut. Er hatte am Morgen eine Kopfschmerztablette genommen, hatte aber noch kein Wort gesagt, bis Marga ihm zurief: „schau mal, die Wächter fahren weg. Mach doch was! Geh raus und hol meine Sachen wieder, die beklauen mich doch bestimmt.“ Jean-Pierre ging also hinaus und versuchte sich den Wächtern in den Weg zu stellen. Die fuhren um ihn herum und beachteten ihn nicht weiter. Er lief noch ein kleines Stück hinter ihrem Auto her und winkte mit den Armen. Aber es war aussichtslos. Wie sollte er nur ohne die Wächter auskommen? Klar gab es Wächter wie Sand am Strand, aber die würden ja nicht sofort auf der Matte stehen. Jean-Pierre setzte sich auf den Bordstein am Straßenrand und versenkte das Gesicht verzweifelt in den Handflächen. So blieb er etwa zwanzig Minuten sitzen. Als er sich erhob, sah er ganz grau aus. Marga stand auf dem Kies am Tor. Kaum hatte er das Grundstück erreicht, begann sie wieder zu keifen. Jean-Pierre sagte nichts. Er ging die gut gebohnerte Holztreppe bis in den zweiten Stock und blieb dort stehen. Marga kam nach einer Weile in den Eingangsraum. Sie schrie etwas zu ihm hoch. Er verstand es nicht. Irgendwie konnte er gar nichts mehr verstehen. Jean-Pierre hatte eine Flasche bayrisches Bier aus besseren Tagen in seiner Sockenschublade versteckt. Die holte er jetzt, machte sie auf, ein bisschen Bier quoll heraus. Er trank einen Schluck. Ein Tropfen Bier löste sich von der Flasche und fiel ins Erdgeschoss, wo Marga stand. Der Tropfen fiel ihr genau auf die Nase. Die Lautstärke ihres Geschreis schwoll an, während sie die Treppe hochging, so schnell sie konnte. Das war zugegebenermaßen nicht sehr schnell, sie hatte Probleme mit der Hüfte. Oben angekommen holte sie zu einer Ohrfeige aus, oder vielleicht wollte sie Jean-Pierre auch die Flasche aus der Hand schlagen, jedenfalls holte sie aus. Ihr Mann wich zurück und streckte den Arm mit der Flasche zur Seite aus, damit Marga nicht an die Flasche kam. Dadurch geriet Marga aus dem Gleichgewicht. Sie drehte sich halb um ihre eigene Achse, verhedderte sich dann mit den Beinen und stürzte. Sie schlug mit dem Gesicht vor einen der Treppenpfosten, Blut spritzte und ihr brach ein Zahn ab. Für Jean-Pierre lief alles in Zeitlupe ab. Er stellte sich vor, wie sie wegen des Zahns schreien würde. Dabei zuckte sein linkes Bein unwillkürlich nach vorn, womit er Marga endgültig von der Stufe schubste. Er wollte gerade sagen, dass es ihm leidtat, da hielt er sich erschrocken die freie Hand vor den Mund. Es tat ihm ja gar nicht leid. Währenddessen kullerte die Frau die Treppe herunter, nahm sogar die Kurve mit und krachte unten mit lautem Getöse vor die Wand. Jean-Pierre trank jetzt das Bier aus. Dann setzte er sich auf die oberste Treppenstufe und wartete, ob Marga aufstand und schrie. Nichts. Alles blieb still.

Teil 1: Voodoo
Teil 2: Es hat Füße
Teil 3: Marga schreibt ein Buch
Teil 4: Griselidis
Teil 5: Jean-Pierres Wunsch geht in Erfüllung
Teil 6: Reinkarnierte Hunde
Teil 8: Schrecken
Teil 9: Auferstehung

Hier ist das zweite Buch Leben ohne Marga von Charlotte Palme nachzulesen:
Teil 1: Leichenschmaus
Teil 2: Relativitätstheorien
Teil 3: Jagdfieber
Teil 4: Das Frohe leben am Hofe