tot

Es sollte jetzt vielleicht „sterben mit Marga“ heißen, aber irgendjemand lebt ja immer. In diesem Fall lebt er, sie oder es mit der Erinnerung an Marga.

Jean-Pierre veranstaltete einen Leichenschmaus. Dabei handelt es sich keineswegs – wie man meinen könnte – um ein Mahl, bei dem eine Leiche zubereitet wird. Zumindest keine menschliche Leiche. Meist gibt es immerhin tierische Leichen, aber die waren nicht namensgebend, obwohl ich mich da vielleicht zu weit aus dem Fenster lehne. Leichenschmaus soll es schon vor 12.000 Jahren gegeben haben. Und da wurde eventuell auch ab und zu ein Mensch verzehrt, wer weiß das heute schon noch.

Jean-Pierre war jetzt Witwer und lustig war er – inzwischen – auch. Seine neue Lebensgefährtin Anne-Catherine half ihm, den Leichenschmaus zu organisieren. Sie hatten sämtliche ehemalige und auch die heutigen Schlosswächter eingeladen, die Angestellten ihres Antiquitätengeschäfts, Margas Freund Argentin de Bavay und seine Familie, die Ärztin, die Marga zuletzt betreut hatte und die Mitglieder des Pflegediensts, der sie zuletzt gepflegt hatte. Die Beerdigung selbst war sehr erhebend. Es waren immerhin mindestens fünfzehn Leute erschienen. Jean-Pierre zählte die Trauergäste nicht. Es wurde Mozart gespielt, „S’altro che lagrime“ aus der Oper „La clemenza di Tito“. „Wenn nichts als Tränen“ oder sinngemäß: „Tränen nützen auch nichts“. Es war so anrührend, dass Jean-Pierre die Stimme versagte und Anne-Catherine musste ihn stützen.

Gegessen wurde im Restaurant „Étape Louis Quatorze“, so benannt nach einem Besuch Ludwigs XIV. in der Ortschaft in den 1660er Jahren, als Ludwig noch ein junger Bursche war. Dementsprechend hatte Jean-Pierre in der Bibliothek recherchiert, was es damals zum Abendbrot gab, und das gab es nun als Margas Leichenschmaus. Marga wäre stolz gewesen, obwohl sie generell gegen Restaurants war. Man soll sein Geld nicht essen, pflegte sie immer zu sagen. Ein Essen allein zu ihren Ehren sollte dennoch ihre Zustimmung finden. Da sie tot war, musste sie ja nicht mehr bezahlen. Dass Jean-Pierre das Essen von dem von ihr geerbten Vermögen bezahlte, kann die verstorbene Marga aufgrund ihres Zustands nicht wissen. Es gab zwei verschiedene Menüs, die die Eingeladenen im Vorfeld wählen konnten. Wer dazu zu faul war, bekam Menü 1. Anno 1660 wurden beide Menüs den Adeligen gereicht. Vegetarier gab es damals noch nicht, auch Beilagen waren noch nicht so beliebt. Wenn ein Gang den modernen Köchen gar zu abwegig erschien, dann wich das Restaurant von der Vorlage ab, die Köche bemühten sich aber sehr, nah an der Vorlage zu bleiben, denn sie wurden gut bezahlt. Schließlich gab es

Menü 1
1) Klare Suppe.
2) Kaltes Rindfleisch mit Remouladensoße.
3) Gekochte Suppenhühner mit
4) Reis. (Eigentlich ein eigener Gang, aber als Gang doch ein bisschen seltsam.)
5) Coq au vin. (Hahn in Wein gekocht.)
6) Karpfen blau.
7) Pasteten.
8) Mandeltorten.
9) Forellen.
10) Lammbraten.
11) Hasen.
12) Gebratenes Gemüse.
13) Spritzgebäck.

Menü 2
1) Kalbskopf.
2) Gespickte Leber.
3) Spanferkel.
4) Hecht.
5) Rotkohl auf Lammfleisch.
6) Kalbsbries.
7) Morcheln.
8) Gebratene Hühner.
9) Gemüseauflauf mit Eiermilch.
10) Quappe mit Erbsen.
11) Mandeltorten.
12) Spritzgebäck.
13) Kalbsnierenbraten.

Außerdem standen auf den Tischen Schalen beziehungsweise Schälchen mit: Äpfeln, Holländischem Käse, Zucker, großen und kleinen Rosinen, Mandeln, Zwieback, Johannisbrot, Gewürzbrot, Schafskäse und Butter, Kuchen, Zitronen, Pomeranzen, Kapern, Essig, Lebkuchen und Limonen.

Das stundenlange Essen war so seltsam, dass es allein schon Gesprächsstoff bot. Niemand schaffte es, ein ganzes Menü zu essen, obwohl die einzelnen Portionen nicht sehr groß waren. Immerhin fanden auch Vegetarier, Veganer und Glutenfreie irgendetwas, das sie essen mochten. An den Schälchen standen kleine Schilder, damit niemand Zucker für Salz hielt oder Essig für Öl. Zum Essen wurde trockener Rotwein und Wasser gereicht, wer etwas anderes wollte, musste es selbst bezahlen. Damals bei Ludwig XIV. wurden 3 Eimer Wein getrunken. Das schafften Margas Gäste nicht. Margas Lieblingsopern wurden leise im Hintergrund von CD gespielt, bis Jean-Pierre aufstand und die Anwesenden bat, zu Ehren der Verstorbenen Geschichten aus Margas Leben zu erzählen. Die Gäste schwiegen betreten. Es fiel niemandem etwas ein, das sie zu Margas Ehren erzählen konnten und über Tote soll man doch nichts Schlechtes sagen. Die neuen Wächter hatten Marga nicht einmal gekannt und vermochten daher gar nichts beizusteuern.

Dann stand Jean auf. Er räusperte sich und erklärte, dass er vor Pierre Wächter gewesen war. Nach Pierre war Jean-Pierre Wächter gewesen. Da sie einander nicht gezeugt hatten, sei das immerhin nicht wie zu Beginn eines Evangeliums. Jemand lachte und verstummte dann betreten. Jean wollte eine Geschichte erzählen, die sich in seiner Zeit ereignet hatte.

Der Spuk im Schloss. Als Marga wieder einmal über einen Flohmarkt flanierte, sah sie ein gerahmtes Pastellporträt, das ihr gefiel. Es zeigte eine junge Frau mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf und einem verklärten Ausdruck im Gesicht. Das Bild war etwa 45 Zentimeter hoch und 37 Zentimeter breit. Die Frau auf dem Gemälde kam Marga bekannt vor und so fragte sie den Verkäufer, wer die Frau war und was das Bild kosten solle. Der Mann hatte das Bild auf dem Speicher in dem Haus seines Großvaters gefunden. Er wusste nicht, wer die abgebildete Frau war. Auf der Rückseite des goldfarbenen Rahmens klebte ein kleines Papierschild mit dem Namen der Firma, die den Rahmen hergestellt hatte. Eine Firma in Edinburgh. Vielleicht würden die Leute dort mehr wissen, wenn es die Firma noch gab. Da das Bild nur 28 Francs (etwa 30€) kosten sollte und somit, selbst wenn es nur als Dekoration taugte, schon preiswert war, kaufte Marga das Bild. Damals war der Franc noch wirklich viel wert. Jean nahm das Bild entgegen, trug es zum Auto, schlug es in eine Decke ein und verstaute es im Kofferraum. Auf der Fahrt fragte Marga, ob er Klopfgeräusche aus dem Kofferraum höre. Er hörte nichts und da war ja auch nichts außer dem Bild im Kofferraum und vielleicht lag es einfach an seinem klapprigen Auto. Als die beiden am Schloss ankamen, machte Jean den Kofferraum auf. Es kam ihm so vor, als sei die Decke verrutscht. Aber auch das hätte leicht auf der Fahrt passiert sein können. Jean trug das Bild hinein und wollte es in den Schlossflur stellen, aber Marga befahl ihm, sogleich eine Leiter zu holen und das Bild aufzuhängen. Sie gingen in das hintere Eckzimmer im Erdgeschoss und Jean hängte das Bild auf. In dem kleinen Raum stand ansonsten noch eine Chaiselongue und daneben ein kleines Tischchen mit einer Vase drauf. In der Vasen standen weiße Lilien, Margas Lieblingsblumen.

Am nächsten Tag waren alle Lilien verblüht. Die Blätter lagen auf dem Tischchen und auf dem Boden. Es war kein schöner Anblick. „Wir dachten uns aber nichts dabei“, sagte Jean. Als seine Frau in dem Zimmer putzte, behauptete sie allerdings, dass es dort plötzlich kälter geworden sei. Sie erzählte das Marga. Die fand es aufregend und wollte das „Spukzimmer“ sofort ausprobieren. Es passierte aber nicht sogleich etwas und da wurde es ihr langweilig. Marga stellte neue Blumen auf und die waren schon am nächsten Tag verwelkt. Genau wie zuvor. „Sie beauftragte mich, mehr über das Bild herauszufinden“, erzählte Jean. „Ich stellte fest, dass die Firma, die den Rahmen hergestellt hat, noch existierte. Mein Englisch ist nicht besonders gut, aber ich schaffte es schließlich, mich dem Besitzer verständlich zu machen. Der bat mich, ihm ein Foto zu schicken. Ich versuchte also, ein Foto von dem Bild zu machen. Aber meine Kamera war kaputt. Es war wie verhext. Auf den Fotos entstanden Schlieren und dunkle Schwaden schienen in der Luft zu schweben. Marga fand das ganz toll und wollte, dass ich in dem Zimmer schlafen solle, und dabei alles dokumentiere, was passiert. Da hat meine Frau eingegriffen. Wenn ich in dem Zimmer schlafen müsse, würden wir sofort ausziehen und Marga könne sich andere ‚Versuchskaninchen für ihre perversen spiritistischen Spiele‘ suchen.“ Jean schaute unsicher zu Jean-Pierre hinüber: „Das hat meine Frau damals wörtlich gesagt.“ Jean-Pierre lächelte milde. Er konnte sich vorstellen, was Jeans Frau über Marga gesagt hatte. Da waren bestimmt noch schlimmere Ausdrücke dabei gewesen. Bei dem Wort „pervers“ erinnerte er sich außerdem auch an die eine oder andere Sache.

Jean räusperte sich, trank einen Schluck Wein und fuhr fort. Der Schotte versprach jedenfalls, in den alten Geschäftsbüchern nachzuschauen, ob er etwas über das Bild finden könnte. Bevor er sich wieder meldete, schon am Nachmittag des gleichen Tages, stand ein älterer Mann in schwarzer Gewandung vor dem Tor. Das graue Haar war nach vorn gekämmt und die oblatengroße Glatze auf seinem Scheitel wirkte wie eine Tonsur. Sah nach einem Priester aus. Die Ähnlichkeit war wohl gewollt. Der Mann nannte sich „Vater Robertus“, aber „Vater“ können sich eigentlich alle nennen, die Kinder haben. Echte Kinder oder vielleicht reichen auch geistige Kinder. Projekte. Einen Baum gepflanzt, ein geistiges Kind gezeugt. Jean überlegte kurz, ob die Endung „us“ seinem eigenen Vornamen mehr Autorität verleihen könnte. Zumindest in den Vereinigten Staaten würde der Name „Jeanus“ keine Autorität verleihen, denn damit wird eine durch einen Penis oder eine schlechte Passform verursachte Beule im Schritt einer Jeans bezeichnet. Allerdings würde Jean es wie „Johnü“ aussprechen und kein Amerikaner würde das mit Jeanus in Verbindung bringen. Jean könnte sich also doch nennen, wie er mag. Dass ihm die Endung „us“ am Vornamen mehr Autorität verleihen könnte, ist allerdings zu bezweifeln.

Vater Robert verlangte jedenfalls die „Schlossherrin“ zu sehen. Er habe gefühlt, dass sie seine Hilfe brauche. Sie sei verflucht. Er wolle sie exorzieren. „Ich muss zugeben, damals war ich ein bisschen beeindruckt“, fügte Jean hinzu. Er lief also geschwind zu Marga und erzählte ihr von dem Exorzisten. Marga war sofort begeistert und verschwand im Bad, um sich zu schminken. Der „Vater“ wurde in den Salon geführt, wo er auf einer zierlichen, blauweißen Bank Platz nahm. Er hob sich sehr schön von der Bank ab. In der einen Hand hielt er ein speckiges, schwarzes Buch, wahrscheinlich eine Bibel. Oder auch irgendein anderes Buch, in das er einen Hohlraum für einen Flachmann geschnitten hatte. Das werden wir nie erfahren. Um den Hals trug er ein großes, abgegriffenes Holzkreuz an einem langen Lederband. Dieses Kreuz hielt er in seiner anderen Hand. Marga trat ein und schwenkte dabei die Arme herum, als betrete sie eine Bühne. Vater Robert stand auf und begrüßte sie. Dabei entstand ein peinlicher Moment, als Marga ihm ihre Hand zum Handkuss hinhielt und Vater Robert ihr seine Hand zum Handkuss hinhielt. Bischof konnte er doch wohl wirklich nicht sein. Marga und der Mann erstarrten kurz, dann schüttelten sie sich die Hände und lächelten verbindlich. „Sie sind also Exorzist“, begann Marga. Mit gewichtiger Stimme begann Vater Robert ihr zu erklären, dass ihm in der letzten Nacht ein Engel im Traum erschienen sei, der ihm befohlen hatte, Marga vor dem verfluchten Bild zu schützen, das sie kürzlich erworben hatte. Marga sah Jean an, der zuckte mit den Achseln, er hatte den Exorzisten jedenfalls nicht bestellt. Dem Wächter kam aber der Verdacht, dass seine Frau den mysteriösen Vater Robert informiert hatte. Seine Frau war sehr religiös, um nicht zu sagen abergläubisch und sie wusste, dass Marga den „dunklen Künsten“ zugeneigt war. Mit „dunklen Künsten“ meine ich keinesfalls „Die Nachtwache“ oder ein anderes dunkles Gemälde, auch keinen Soul oder Rhythm and Blues, weder das kunstvolle Stricken dunkler Mützen und Socken, noch Origami mit dunklem Papier. Einige der Zuhörer murmelten nun, sie hätten Marga gekannt und Jean brauche kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sie wüssten schon, wie die Häsin gelaufen sei. Es erklang unterdrücktes nervöses Kichern.

Jean räusperte sich und fuhr fort. Marga und Vater Robert versuchten dann gegenseitig sich zu charmieren. Doch, das Wort gibt es wirklich, es steht so im Duden. Ich finde aber, dass das nichtexistente Wort „charmisieren“ viel besser klingt. Was er als Bezahlung für einen Exorzismus haben wolle, fragte Marga. „Gar nichts“, antwortete der Mann. Er tue das alles nur für den Sieg des Guten in der Welt. Das fand Marga exotisch. „Ich fand das ehrlich gesagt auch exotisch“, fügte Jean hinzu. Vater Robert ergänzte denn auch, dass Marga seiner Kirche etwas spenden oder schenken könne, wenn sie mit seiner Arbeit zufrieden sei. Er nehme auch Naturalien, sagte Vater Robert und als Marga daraufhin ihre Brust rausstreckte, setzte der Exorzist noch hinzu, dass er zurückhaltend und keusch und nur für den Glauben lebe. Das sollte wohl heißen, dass er bestimmte Naturalien als Bezahlung ausschloss. Marga schien das ein wenig zu enttäuschen. Allerdings war Vater Robert alt und unansehnlich, also war sie nicht allzu sehr beleidigt. Sie würde ihn nur „beschenken“, wenn er auch erfolgreich sei, gab Marga zurück. Das reizte den Mann zu der Bemerkung, dass es gesünder sei, sich großzügig gegenüber Männern zu zeigen, die Geistern und Gespenstern Befehle erteilen und Flüche aufheben konnten. Womöglich konnten diese Menschen auch Flüche aussprechen. Marga gab zu Bedenken, dass man wohl kaum christlich sein könne, wenn man andere Leute verfluche. Es kam zu einem Patt und Marga bot 15 Francs (16€) für den Fall, dass der Exorzist erfolgreich sei. Der lachte darüber und spottete, dass seine Geister ihn schon gewarnt hätten, dass Marga geizig sei. Das gefiel Marga gar nicht, sie lief rot an und Jean merkte, dass sie kurz davor stand, Vater Robert hinauswerfen zu lassen. Der Spuk machte ihr jedoch Angst und so ballte sie die kleinen Fäuste und sagte, dass 20 Francs (21€) ihr letztes Wort sei. Vater Robert nahm an. Wenn sie weiße Kerzen habe und einen Eimer Wasser, den er weihen könne, dann wäre er sofort bereit.

Sie schritten zur Tat. Vater Robert segnete einen grünen Eimer voll Wasser, den zuerst angebotenen schwarzen Eimer hatte er abgelehnt. Dann verspritzte er das Wasser im Zimmer. Als Vater Robert zum Gemälde kam, warf er dem Bild einen scharfen Blick zu und verkündete, das könne er nicht jetzt und hier exorzieren, das Bild sei die Ursache des Problems, es würde von der unheiligen Seele einer Ehebrecherin und Mörderin bewohnt. Marga solle das Bild lieber verbrennen. Marga fragte ihn, ob er noch alle beisammen habe. Beide regten sich furchtbar auf. Der Mann kniff die Augen zusammen und Marga ballte wieder die kleinen Fäuste. Dann handelte sie jedoch mit dem Exorzisten aus, dass sie ihm das Bild gab – also schenkte – damit er es daheim exorzieren könne. Er würde im Gegenzug weder eine Bezahlung noch ein weiteres Geschenk von ihr erwarten. Er konnte ja das exorzierte Gemälde behalten. Jean wollte etwas einwenden, das ging ihm zu plötzlich. Aber Marga schnitt dem Wächter mit einer Bewegung das Wort ab und befahl ihm, das Bild abzunehmen. Vater Robert klemmte sich das Gemälde unter den Arm und zog zufrieden von dannen. Zum Test stellte Marga eine Vase mit Lilien auf. Am nächsten Tag waren sie nicht verwelkt. Das war der Beweis! Alles war wieder in Ordnung. Marga nahm sich vor, in Zukunft vorsichtiger zu sein, mit dem, was sie kaufte.

Jeans Frau stritt jede Beteiligung ab. Jean nahm aber an, dass sie für eine „gute Sache“ lügen würde, auch wenn das eine Sünde war. Man konnte das bestimmt leicht durch das Beten eines Rosenkranzes wieder hinbiegen. Er würde es aber nie erfahren, seine Frau war vor fünf Jahren gestorben. Einige der Anwesenden drückten Jean ihr Beileid aus. Der fuhr danach fort: „Zwei Tage später rief der Besitzer der Rahmenwerkstatt aus Edinburgh wieder an. Er sagte, er habe den betreffenden Eintrag in ihren Büchern wiedergefunden. Sein Großvater hatte den mit echtem Blattgold belegten Rahmen persönlich gemacht. Ich fragte ihn, ob er auch wisse, wer der Maler sei und wen das Gemälde darstelle.“ „Ja“, sagte der Schotte. „Das Gemälde stellt Claire Clairon dar, eine Schauspielerin aus dem 18. Jahrhundert, und sei wahrscheinlich von Adélaïde Labille-Guiard gemalt worden oder in der gleichen Zeit von einer Schülerin der Guiard.“ Das könne er nicht genauer sagen, weder was den Maler noch was die genaue Datierung angehe. Man müsse das Bild schon einem Fachmann zeigen. „Ich dankte dem Mann und machte mich kundig, was Claire Clairon und Adélaïde Labille-Guiard anging. Claire Clairon war wirklich eine Ehebrecherin, aber sie hatte bestimmt niemanden ermordet und die Mätresse eines Markgrafs zu sein, war zu ihrer Zeit nicht ungewöhnlich. Es war ein mehr oder weniger normaler Job und die Clairon bekam dafür ein normales Gehalt. Marga hätte das bestimmt gefallen. Aber selbst wenn das Gemälde nur von einer Schülerin der Guiard gemalt wäre, hätte es immer noch einige Tausende Francs einbringen können. Tausende! Die jetzt in der Hand eines betrügerischen Exorzisten waren, der nicht einmal wusste, was er da abgegriffen hatte. Was sollte ich nur machen? Marga würde mir das niemals verzeihen. Ich wäre hinterher an allem schuld. Also sagte ich ihr nichts davon. Sie fragte auch nicht. Wir sprachen nie wieder über das Bild.“ Nach einer kleinen Pause fügte Jean, zu Jean-Pierre gewandt, hinzu: „Es tut mir leid“. „Ist schon in Ordnung“, antwortete dieser. „Ich hätte es genauso gemacht.“

Hier ist das erste Buch Leben mit Marga von Charlotte Palme in neun Teilen nachzulesen:
Teil 1: Voodoo
Teil 2: Es hat Füße
Teil 3: Marga schreibt ein Buch
Teil 4: Griselidis
Teil 5: Jean-Pierres Wunsch geht in Erfüllung
Teil 6: Reinkarnierte Hunde
Teil 7: Abstürze
Teil 8: Schrecken
Teil 9: Auferstehnung

Hier ist das zweite Buch Leben ohne Marga von Charlotte Palme nachzulesen:
Teil 2: Relativitätstheorien
Teil 3: Jagdfieber
Teil 4: Das Frohe leben am Hofe