GesichtszeichnungWer den Comics des Amerikaners Richard Corben (1940-2020) einmal begegnet ist, wird sie nicht mehr vergessen. Entstünden sie heute, wäre vermutlich ein permanenter Shitstorm die Folge. Im Nachhinein publiziert haftet ihnen eher der Nimbus eines Klassikers der Graphic-Novels an. Im Zuge der Emanzipation, des Kampfes gegen Sexismus und auch in Zeiten der offensiven diversen sexuellen Identitäts-Ausrichtungen würden Corbens Comics anecken, weil sie als maskuline Männer-Phantasie daherkommen – auf den ersten Blick.

Richard Corben hat seine Helden und Heldinnen in vielen seiner Comics nackt dargestellt. Dabei sind die von ihm gezeichneten Frauenfiguren bezüglich ihres Körperbaus extrem weiblich und die Männer, die aussehen wie Bodybuilder, extrem männlich. Oft geht es dabei nicht nur um Nacktheit sondern auch um Sex – wobei Corben entgegen mancher Behauptung von Kritikerseite nichts dabei fand, auch den männlichen Penis abzubilden und nicht nur Frauen nackt zeigt.

Ideale Menschen in Rollenklischees

Seine darstellerischen Standards sind unter anderem: Frauen haben große Brüste und dralle Formen, Männer sind muskelbepackt und haben einen großen Penis, der auch mal im (halb)errigierten Zustand gezeigt wird. Spätestens wenn es in den Corben-Comics zum Liebesspiel kommt, wird es aber komplizierter. Da entpuppt sich der Sexualpartner als etwas Anderes, als er zunächst erschien. So kann er sich etwa zu einem Trugbild und einer Monströsität wandeln wie in Teilen der „Den“-Saga, einem Hauptwerk von Corben. Oder der Geschlechtsverkehr findet zwanghaft statt wie in „Jeremys große Reise“, wo der Held zwangsverpflichtetes Opfer einer kultischen sexuellen Handlung wird. Es gibt noch weitere Brüche der Klischees: In „Den – Das Haus des Schweigens“ verfettet der sonst muskelgestählte Held und seine Partnerin sieht demgegenüber androgyn aus. Nun hat sie den Körperbau, den er vorher hatte, aber sie ist ausgestattet mit allen weiblichen Geschlechtsmerkmalen. All dies entspricht so gar nicht den Klischeeerwartungen, die man beim Lesen der Corben-Comics eigentlich haben müsste. Richard Corben war nicht nur Zeichner, er hat einige seiner Geschichten selbst verfasst, er war also zusätzlich als Autor und Erzähler tätig und hat damit seine Inhalte selbst bestimmt.

Richard Corben und die 1960er-Jahre

Man muss etwas früher ansetzen, um die Ausrichtung von Richard Corbens Comics besser einordnen zu können. In den frühen 1960er-Jahren etablierte sich in den USA eine kulturelle Gegenbewegung, die mit vielem brach, was von der Gesellschaft als gesetzt erschien. Denn Amerika war immer ein zutiefst religiöses und puritanisches Land und ein wesentlicher Teil der Gesellschaft wollte das beibehalten. Die Gegenkultur wollte etwas dagegen setzen, wollte freien Sex, die Legalisierung von Drogen und insgesamt mehr Freiheiten und weniger Einschränkungen – kurz: mehr Offenheit für neue Ideen und Lebensweisen. Ende der 1960er-Jahre erschienen als Verkörperung dieser neuen Atmosphäre die Underground-Comix, die diese Inhalte propagierten und mit enthemmten, für die bürgerliche Gesellschaft schockierenden, Darstellungen kombinierten.

  • Die „Freak Brothers“ von Gilbert Shelton waren Dauerkiffer mit chaotischem Lebensstil.
  • In den Comics von Robert Crumb ging es um sexuelle Abenteuer am laufenden Band, die Darstellungen waren freizügig und explizit.
  • Noch freizügiger – das heisst: pornografisch und kombiniert mit harten Gewaltdarstellungen – waren die Comics von S. Clay Wilson.
  • Unter den Underground-Comic-Schaffenden waren grafische Könner wie Victor Moscoso, Rick Griffin oder Robert Williams.

Letztere schufen artifizielle Bildgeschichten, vor allem Moscoso, der eine Art psychedelischer Pop Art schuf, und Williams, der psychedelische Kunst malte. Griffin war zwar ebenfalls in diesem Übergang zur Kunst angesiedelt, zeichnete aber auch klassisch erzählte Comicgeschichten. Doch keiner der drei hatte das ernsthafte visuell-erzählerische Talent, das Richard Corben aufwies. Das herausragende zeichnerische Talent, das er war, verstellt etwas die Sicht darauf, dass er einer der Meisterregisseure des Medium „Comic“ war – vergleichbar mit Will Eisner oder dem Belgier Hermann (Huppen).

Underground-Comix und Hyperrealismus

Die Underground-Comixs wurden meist selbst verlegt oder erschienen in Mini-Verlagen. Richard Corben gehörte zu dieser Bewegung, mit dem Unterschied, dass er

  • wesentlich besser zeichnete als die meisten anderen Underground-Comix-Zeichner,
  • von Anfang an grafisch, zeichentechnisch wie reprotechnisch experimentierfreudig war und
  • auch ernsthafte Geschichten brachte, die gesellschafts- und zivilisationskritisch, mal witzig, mal ausgeflippt und oft beklemmend waren und dabei Ängste visualisierten.

Zu seinem Markenzeichen wurde die erwähnte übersteigerte Darstellung nackter Frauen- und Männerkörper. Corben zelebrierte den Geschlechtsverkehr ohne explizit pornografisch zu sein und kontrastierte dies in seinen Geschichten mit einem hohen Maß an Action, Gewalt und Horror. Diese derb-trashige Mischung sollte bis in seine letzten Jahre hinein typisch für ihn werden und garantierte einen vielstimmigen Nervenkitzel in seinen Geschichten. Seine Heldinnen und Helden geraten nicht nur in Gewaltkonflikte sondern auch in Sexualkonflikte, in zwanghafte Situationen – und all dem unterliegt in existenziellen Grenzsituationen die Atmosphäre von Angst, Bedrohung, Paranoia und Gewalt. Und nicht von ungefähr strotzen zahlreiche seiner Comicerzählungen, Covergemälde oder sonstigen Illustrationen vor Phallussymbolen.

Der egomanische Held

Doch Richard Corbens Gesamtwerk ist facettenreich. Gerade die von ihm selbst verfassten ersten schwarz-weißen Comics brachen mit Klischees und negieren ein tradiertes Männerselbstbild. Corbens Charakterisierungen haben etwas Unerbittliches, denn er führt den Menschen als Spezies oft als aggressiv und selbstbezogen vor, nur ausgerichtet am eigenen Wohl und in vielen seiner Comicgeschichten konfrontiert mit diesem eigenen beängstigenden Ich.

  • Etwa in seiner sechsseitigen Comic-Parodie auf den klassischen Comichelden „Magnus, der Roboterkämpfer“ (im Original von Russ Manning) mit dem Titel „Mangle, Robot Mangler“ (von 1972): Hier spannt ein sexuell aktiver Roboter dem selbstverliebten und an gnadenloser Selbstüberschätzung leidenden Helden „Mangle“ seine Freundin aus. Mangle endet letztlich völlig ohne Gliedmaßen in einem Krankenhausbett, während der Roboter mit seiner Freundin eine gute Zeit hat.
  • In der achtseitigen Comic-Kurzgeschichte „How Howie Made It in the Real World“ von 1970 führt Corben die dystopische Zukunft inklusive einer fast perfekten Illusions-Welt in Philip-K.-Dick-Manier vor. Er dekonstruiert den Schein einer nur vermeintlich schönen Welt, in der es nicht genügt, sich wohlzufühlen und sich zu lieben, solange man nicht sieht, wie diese Welt wirklich ist. Die Comic-Kurzgeschichte erzeugt eine Atmosphäre, die man in damaligen Science-Fiction-Kurzgeschichten finden konnte und wie sie in der „Matrix“-Filmserie Jahrzehnte später vertieft und ausgebaut wurde.

Trash-Aspekte im Werk Richard Corbens

Die späteren längeren Corben-Comic-Epen wie „Bloodstar“ (als erste Graphic-Novel), „Den“ oder „Mutantenwelt“ erinnern bei der visuellen Darstellung ihres Personals an die Trash-Sex-Filme von Russ Meyer. Ob dem eine Betrachtung der Welt unter dem Blickwinkel von sexueller Freiheit zugrunde liegt oder ob Sex zum Verkaufsargument für eine Comicgeschichte wird – oder beides – ist von außen betrachtet schwer zu sagen. Andererseits überlagern Nacktheit und sexuelle Handlungen oftmals die Story und laufen Gefahr, sie zur Mastubationsvorlage zu degradieren – versehen mit einem Fetisch für höchst idealisierte Körper. Dass das Gesamtwerk Richard Corbens mit insgesamt fast 5.000 gezeichneten Seiten viel mehr ist als das, ist keine Frage.

Gruselcomic „The Beast of Wolfton“

In „The Beast of Wolfton“ wird zum Beispiel eine mittelalterliche Gesellschaft gezeigt, in der die weibliche Hauptfigur unterdrückt wird und sich den sexuellen Avancen ihres grobschlächtigen Mannes gegenüber verteidigen muss. Die handelnden Personen bis auf  den Wolfsmenschen, sind wenig sympathisch geschildert. Schließlich enthauptet die weibliche Figur ihn, der Menschengestalt angenommen hat, direkt nach dem Geschlechtsakt, und versinkt im Wahnsinn. Diese Comicgeschichte ist mehr als eine Sex- und Gewalt-Gruselgeschichte, dafür ist die Personen-Charakterisierung zu ungewöhnlich. Allerdings repräsentiert sie einmal mehr auch einen für Richard Corben typischen Habitus angesiedelt zwischen Voyerismus und Exhibitionismus. Die Geschichte hätte mit weniger expiziten Mitteln auch erzählt werden können. Zugleich zeigt sie sexuelle Beziehungen des Unwillens, der Unerfülltheit und ihr Spannungsverhältnis zur Gewalt und widmet sich damit einem Thema, das so in dem ehemaligen Trivialmedium „Comic“ selten behandelt wird.

Motive und Themen der Comics

Motivisch ist die Thematisierung und Darstellung von Sex der eine rote Faden im Werk von Richard Corben, außerdem sind es Körperlichkeit und Physiognomie der Protagonisten und eine monströs-gewalttätige Bedrohung, die eine mögliche Eintracht bedroht. Ein weiteres übergeordnetes Element ist der Phantasiegehalt der Geschichten. Ob in den kürzeren Horror- oder Science-Fiction-Geschichten oder in den längeren Albenwerken: Richard Corben zeigt einmal menschliche Beziehungen und kontrastiert diese verstehbaren sozialen Interaktionen mit monströser, futuristisch-technischer und architektonischer Phantasie. Raumschiffe, die der Comiczeichner entwirft, Kreaturen oder Landschaften sind immer wieder aufregend und ungewöhnlich. Wer bei Corben Pulp und Trash erwartet und sich durch den Blick auf die ersten Bilder dabei bestätigt sieht, wird manchmal enttäuscht und mit etwas konfrontiert, das zwar fantastisch gebrochen und verfremdet ist, letztlich aber im zutiefst Menschlichen fusst. Der Autor Richard Corben arbeitet mit scheinbar trivialen Versatzstücken und verfremdet sie dann. Hinter all den nackten, sexualisierten Figuren versteckt, übersieht ist das leicht zu übersehen.