GesichtstatooHermann Hesse beschrieb in seinem Roman „Steppenwolf“ (1927), der in den 1960er-Jahren neu entdeckt wurde, den Menschen als ein Bündel von Identitäten. Als Krankheitsbild eines vielfach gespaltenen Geistes ist auch der umstrittene Begriff der sogenannten „multiplen Persönlichkeit“ geläufig. In der Welt der Comics kennt man Jean Giraud, jenen Comiczeichner, der sich mit „Moebius“ ein Alter Ego mit eigenem Zeichenstil zugelegt hatte. Während Jean Giraud als Comiczeichner mit Westerncomics auf dem Boden blieb, hob er als Moebius science-fiction-mässig, esotherisch und surreal ab.

Varianz, Entfernung vom Herkömmlichen und Aufspaltung einer Persönlichkeit in ihre kreativen Möglichkeiten spielen bei den Entwicklungsprozessen besonders fähiger Zeichner wie Moebius, Alex Nino, Barry Windsor-Smith oder Richard Corben offenbar eine große Rolle. Immer wieder ein Anderer, ein Neuer zu sein, kann für eine Comiczeichner eine Überlebensstrategie im Business sein und schult die eigenen Fähigkeiten. Wer visuell einen neuen Blickwinkel einnehmen kann, bleibt als Erzähler lebendig und spannend. Auf den Amerikaner Richard Corben trifft genau das zu.

Experimentierfeld der Zeichentechnik

Wie kaum ein anderer Comiczeichner hat Corben etwa unterschiedlichste Techniken für seine Farbgebung eingesetzt oder für die Grauwert-Erzeugung von Schwarz-/Weiß-Comics ausprobiert. Er scheint kontinuierlich experimentiert zu haben und dies in sein Werk einfliessen lassen, was die Vielfalt seiner grafischen Stile geprägt hat. Seine Darstellungsmöglichkeiten von der Aquarell-Colorierung, dem Malen in Mischtechnik, mit Markern, Acryl oder Farbstiften, der Spritzpistolen-Technik bis hin zur Farbgebung am Computer ist in ihrer Vielfältigkeit kaum in dem Werk eines anderen Comic-Zeichners zu finden.

Farbwirkung und Reproduzierbarkeit

Dabei hat Richard Corben stets eine Vorstellung vom Ergebnis seiner Arbeit gehabt und sich in die jeweilige Technik vertieft. Das ging soweit, dass er seine Werke selbst reproduziert und dabei Druckfilme für den Vierfarbsatz erstellt hat. Inzwischen ist die alte Reproduktionstechnik mit Reprokamera und Farbauszügen für den Vierfarbdruck schon lange von den Möglichkeiten der Computertechnik verdrängt worden. Aber man sieht daran, dass Corben Technik als kreatives Instrument angesehen hat, um ein Ziel zu erreichen. So sagt er, dass er die Farbwirkung seiner Comics, wie sie im Druck zu sehen sind, zum Teil nur erzeugen konnte, weil er sich mit der technischen Wiedergabe der Farbe beschäftigt hat und die Farbwirkung in der Reprotechnik an den Möglichkeiten des Drucks ausrichten konnte.

Das Craftint-Raster-Verfahren

Ein Beispiel für die Neugier von Richard Corben im Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Technik ist etwa die elfseitige Underground-Comic-Kurzgeschichte „Horrible Harveys House“ von 1971. In der Schwarz-/Weiß-Geschichte arbeitet Corben viel mit Halbtonrastern mit dem sogenannten „Craftint“-Verfahren, das auf einem chemischen Prozess basiert und ab 1929 bei den Zeitungscomics zum Einsatz kam. Dabei werden auf einem Zeichenkarton mittels einer chemischen Substanz Rastertöne zum Vorschein gebracht. Dies erfolgt durch das Aufbringen eines flüssigen Sulfides, das mit dem vorher unsichtbaren Sulfat-Muster auf dem Papier reagiert und so eine Rasterpunkt-Struktur oder Rasterstrich-Struktur erzeugt. Heute wird das Craftint-Verfahren – oder die günstigere Version mit Rasterklebefolien von Letraset ( als „Letratone“) – nicht mehr verwendet, weil die Rastertonerzeugung am Computer ungleich schneller ist.

Grafische Verfahren beim Comiczeichnen

Corben jedenfalls hat diese Technik mit Geschick anfänglich eingesetzt, etwa um Hell-/Dunkel-Nuancen herauszuarbeiten. Außerdem hat er manche Hintergründe mit Tusche gespritzt oder von Hand dichte Schraffuren wohl mit der Zeichenfeder gesetzt. Die Kombination der drei Stilelemente ist schon auf der ersten Seite von „Horrible Harveys House“ zu sehen. Später kommen zunehmend Schwarz-Weiß-Kontraste bzw. der Einsatz von Schwarzflächen hinzu. Bei seiner Arbeit mit Craftint ist er weiter gegangen als die meisten anderen Comiczeichner, die sich mit einem in der Regel großflächigen Einsatz begnügt haben. Corben hat Craftint mit seinen manuellen Schraffuren kombiniert wie wenige andere, etwa eines seiner Vorbilder, Wally Wood.

Kombinatorik: Flächen. Linien, Muster

Die Kombination flächiger Elemente mit einer eigenen Linienführung und Grauwerten bzw. in späteren Arbeiten mit Farben, die eine abgerundete Dimensionalität erzeugen, sind typisch für Richard Corben. Schon in seinen ersten Schwarz-Weiß-Comics hat er so eine Räumlichkeit erzeugt, die sich auf die Eindringlichkeit von Körpern, Interieurs und Landschaften auswirkt. Man kann annehmen, dass es Corbens übergeordnetes Ziel war, zwar originell und eigenwillig zu zeichnen und visuell zu erzählen aber dabei eine Art von Realismus zu kreieren, der den Betrachter in seinen Bann zieht. All die fantastischen Geschichten wirken durch die spezielle Corben-Art zu zeichnen, dann doch wieder ganz real. Die Genres Horror, Fantasy und Science Fiction bilden so eine Grundlage für zugleich fremdartige und erfahrbare Welten.

Die Drastik als Hingucker

Da Corben beim Trickfilm gelernt hatte, hat er die Bewegtbildsprache offenbar in sich aufgesogen, weshalb alle seine Comics sehr filmisch wirken. So kann er Motive in den Comic-Paneln spannungsreich beschneiden und längere Bildfolgen selbsth ohne Text dramatisch und virtuos aneinanderreihen. Seine Art, die Welt zu betrachten, ist dabei der Drastik verhaftet: Es gibt kaum einen Corben-Comic, der nicht visuelle Clous bereithält, die man so noch nicht gesehen hat. Richard Corben ist ein Meister der visuellen Überdramtisierung.

Schnitt und Ausschnitt: Filmisches Erzählen

Und wer denkt, das hätte sich im Laufe seines Wirkens über fünf Jahrzehnte hinweg gegeben, sollte sich „Bigfoot“ (2005) ansehen, das in Buchform auch auf Deutsch publiziert wurde. Die Story ist zwar nichts für zarte Gemüter, sie ist visuell aber meisterhaft erzählt und kann selbst abgebrühte Horror-Genre-Kenner überraschen. Corben schneidet seine Bildfolgen wie ein Regisseur und verwendet kein Bild zu viel, um die Geschichte zu erzählen. Nebenbei zeugen fast alle seine Geschichten, ob er sie nun selbst geschrieben hat oder nicht, von psychologischem Verständnis. Mal setzt er sie ein, um den Betrachter zu überraschen, mal, um eine Verbindung zwischen dem Leser und der Geschichte herzustellen, damit der sich mit etwas identifizieren kann. Richard Corben hat als Zeichner stets seinen Leser im Blick.