Wachstum als fluktuierende Vorstellungswelt: Früher war ich ein Ei, jetzt bin ich groß und noch genauso rund.Die inhaltliche Nähe zum Begriff „Wachstum“ war schon in besseren Zeiten von Themen der Wirtschafts- und Finanzwelt bestimmt. „Wachstum“ bedeutete dort: Geld zu vermehren bzw. alle nur denkbaren Möglichkeiten zu vergrößern, zukünftig noch mehr Geld verdienen zu können.

Unternehmen müssen wachsen, Wachstumskurven zeigen an, wie sehr es bergauf geht. Damit ist der Begriff einseitig besetzt und sprachlich pervertiert, weil Geld tot ist und der Mensch lebt.

Wandel anstatt Wandelanleihen

„Wachstum“ wird gleichgesetzt mit der Erhöhung einer Menge. Wachstum des Lebendigen ist aber weitaus mehr als eine Expansion des Organismus. Sie ist gleichzusetzen mit „Neugier“, „Erkenntnisgewinn“ und „Ideenreichtum“. Wobei die Qualität der Ideen zählt, ihr innovatives Potenzial – nicht ihre Anzahl. Aber auch das ist nur ein Teilaspekt des Wachstums. Das Bestimmende der Begrifflichkeit ist der ständige Wandel. Nur etwas, das sich fortwährend verändert, kann die Grundlage für Wachstum bilden.

Aufstieg als Fall oder weniger ist mehr

„Wachstum“ schließt aber letztlich die Regression, die Schrumpfung, mit ein. Alles, was lebt, stirbt auch wieder. Die Finanzwelt sollte dieses Faktum verinnerlichen, der Abstieg ist Teil des Systems – und hat Konsequenzen. Im Marketingdeutsch heißt das „Lebenszyklus“ bzw. „Lebenszykluskurve“, weil die Lebenszykluskurve aussagt, dass ein Produkt sich irgendwann nicht mehr verkauft, wenn man es nicht überdenkt und der Zeit anpasst. Nach dem Aufstieg folgt der Fall. Alle Produkte und Unternehmen, alle Künstler müssen sich ständig neu erfinden, unterliegen einem stetigen Wandel – findet dieser Wandel nicht mehr statt, bleibt der Erfolg aus und versiegt die Innovationskraft.

Wachstums-Sightseeing

Es wohnt dem Menschen inne, Wachstum zu betrachten. Das Schöne am Kinderkriegen ist auch, zu sehen, wie sich die Kinder verändern, wie sie eine Metamorphose durchlaufen, schließlich groß und größer werden. Alles Lebendige wächst, wird und vergeht wieder. Die Welt ist eine gigantische Zustandsänderungs-Maschine. Pflanzenfreunde erleben kontemplativ, wie Blüten entstehen, wie aus Ablegern große Stauden oder aus kleinen Eicheln riesige Eichen werden.

„Werden” als Erlebnisastronomie

Es gibt viele große KünstlerInnen, aber mir sind die am liebsten, deren kreatives Werden ich mit ansehen und damit miterleben kann: Gemeint ist ein Künstler, der seinen Betrachter teilhaben läßt, der am Anfang seinen Weg noch nicht gefunden hat, der umhertastet und vieles ungelenk ausprobiert, um dann irgendwann besser und besser zu werden, bis er sich als Künstler komplett entfaltet hat. Diesen Prozess zu begleiten, macht uns den Künstler lieb, weil wir uns seinem Werden annähern können.

Wachstum als Lebendigkeitsspiegelung

Wer Wachstum betrachten kann, wird seines Lebens habhaft und erkennt in der Erweiterung der Möglichkeiten des Anderen als seines Betrachtungsgegenstandes die eigenen Entwicklungsperspektiven. „Wachstumsbetrachtung“ läßt einen ganz wortlos das Leben ansich verstehen, erinnert daran, um Himmels willen bloß nicht stehen zu bleiben, sonst ist die Wachstumsphase im eigenen Leben beendet – und als Tod auf Raten beginnt schleichend die Regression als intellektueller oder körperlicher Verfall.

Am Ziel der Wachstumsbeteiligung

Wachstumsbetrachtung ist die Teilhabe an einem fraktalen, chaotischen und alles andere als perfekten Vorgang. Wachstum offenbart das Wesen des Menschseins: Der Sprung von der Unbedarftheit zum leuchtenden Stern, vom Suchen zum Finden. Da ist zum Beispiel Jean Giraud alias Moebius, der größte europäische Comiczeichner, einer der wenigen Comic-Schaffenden, der sich Künstler nennen dürfte. Aber was wäre der Schöpfer des populären Comichelden „Leutnant Blueberry“, von „Major Grubert“ und seiner luftdichten Garage und vor allem von Arzach und einigen der bemerkenswertesten Grafik-Kurzgeschichten, wenn man ihm nicht Schritt für Schritt dabei hätte zusehen können, wie ein kleiner französischer Jijé-geprägter Westernzeichner mit groben Pinselstrich zum perfektesten Filligranmeister von Punkt und Strich wird? Wie er besser und immer besser wird. Was wären Will Eisner oder Barry Windsor-Smith, wenn sie entwicklungslos von Anfang an so genial gewesen wären? Was Aubrey Beardsley oder Pablo Picasso? Wer Wachstum sieht, begleitet den Wachsenden gerne auf seinem Weg. Aus Sicht des Verkaufens bedeutet das: Eine feste Kundenbindung entsteht. Aus Sicht der Menschen: Eine Beziehung wächst, die besonders innig wird, weil die Schwankungen des künstlerischen Wachstumsprozesses zwischen Werk und Leben einen vertiefenden Einblick in die nichtlinearen Motive des Menschen gestatten.