gestrauchelt

„Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende“, dachte Jean-Pierre. Das Schloss war ganz still. Er stellte die leere Bierflasche neben sich auf die Holztreppe. Was sollte er jetzt bloß mit der Leiche anfangen. Wenn Marga noch leben würde, dann hätte sie doch schon längst geschrien. Er könnte eine Plane holen und den Körper zersägen. Mit der Kettensäge. Das würde bestimmt Spaß machen und dann spritzt das Blut nur so herum, vielleicht auch auf die weiße Porzellanfigur, die Griselidis darstellt. Wo war der Hund eigentlich? Jean-Pierre bedauerte, keine Schweine zu haben. Denn Schweine fressen auch Knochen. Da bleibt nichts über. Vielleicht muss man irgendwas mit dem Kopf machen. Er hatte einmal einen Roman gelesen, in dem der Mörder eine Leiche mit einem Hammer zu kleinen Brocken zerschlug. Das fiel dann aber hinterher sehr auf. Jean-Pierre merkte, dass seine Gedanken abschweiften und konzentrierte sich wieder auf das akute Problem mit der Leiche. Er hatte noch nicht nachgeschaut, aber Marga musste einfach tot sein. Er könnte auch einfach die Polizei rufen und sagen, dass Marga einen Unfall gehabt hatte. Den kleinen unterstützenden Schlenker mit dem Bein würden sie ihm bestimmt nicht nachweisen können. Dann bräuchte er die Leiche nicht verschwinden lassen. Sonst würde es bestimmt auch schwierig werden, ihr Geschäft aufzulösen. Er müsste ihre Unterschrift fälschen. Vielleicht würde jemand sie sehen wollen, obwohl Jean-Pierre sich das nicht vorstellen konnte. Niemand wollte Marga sehen im Sinne von ihr begegnen, schon mal gar nicht ihre Angestellten. Bei dem Stichwort „Angestellte“ fiel ihm ein, dass er sich jetzt eine junge hübsche Wächterin einstellen konnte. Oder gar das dämliche Schloss verkaufen. Niemand braucht wirklich ein Schloss. Ein Schloss trägt auf. Viel zu kompliziert in der Wartung. Jean-Pierre hatte den Verdacht, dass er ein wenig hysterisch wurde. Er beschloss, aufzustehen und nachzusehen. Wo war eigentlich der Mops? Jean-Pierre rief zaghaft nach Griselidis und hörte ein leises Winseln. Er musste jetzt an die „Akte X“-Folge denken, in der ein kleiner Hund an der Leiche seiner verstorbenen Besitzerin nagt. Griselidis, der Monsterhund. Unvorstellbar.

Also kehrte Jean-Pierre in die Wirklichkeit zurück und stand auf. Er linste vorsichtig über das Geländer. Da lag Marga, ein wenig verrenkt, und rührte sich nicht. Keine Griselidis, aber ein leises Winseln und Schaben. Langsam ging Jean-Pierre die Treppe hinunter. Das Schaben kam von der Tür in den Salon. Da musste die Hündin eingesperrt sein. Jean-Pierre atmete auf. Immerhin war Griselidis in Sicherheit. Er ging weiter hinunter. Dann zwang er sich, Margas Körper anzusehen. Da hatte er sonst nie Probleme mit gehabt. Er kicherte nervös. Jetzt nur nicht durchdrehen. Schwierig festzustellen, ob sie atmete. Er würde sie anfassen müssen. Mist, dass er nicht noch mehr Bier hatte. Er könnte auch den Dekorationswein trinken, aber der war bestimmt Essig, nachdem er 20 Jahre lang aufrecht im Regal gestanden hatte. Haarwasser. Methanol. Nein, das dann doch nicht. Er hatte früher oft an erweiterten Suizid gedacht, jetzt war ihm aber mehr nach Leben zumute. Leebeeeen. Jean-Pierre zwang sich, ganz ruhig durch die Nase zu atmen und legte zwei Finger an Margas Hals. So wie man es immer in Krimis sah. Der Hals war warm. Seine Finger waren kalt vom Herumsitzen mit der kalten Flasche. Jean-Pierre tastete ein bisschen herum. Da drehte Marga plötzlich den Kopf und schrie wie am Spieß. Jean-Pierre erschreckte sich furchtbar. Marga klang nicht wie ein Zombie, also lebte sie noch. Verdammter Mist. Jean-Pierre war kein Mann, der blumige Flüche liebte. „Mist“ reichte für das meiste aus. Er räusperte sich und fragte: „Liebste? Ist alles okay mit dir?“

Es war nicht alles okay mit Marga. Sie hatte sich einen Arm und den Oberschenkelhalsknochen gebrochen und außerdem hatte sie eine Gehirnerschütterung und würde eine Weile im Krankenhaus bleiben müssen. Immerhin. Das Gute für Jean-Pierre daran war, dass er nicht ins Gefängnis musste. Marga litt außerdem unter Gedächtnisverlust und konnte sich überhaupt nicht erinnern, was passiert war. Selbst wenn sie sich irgendwann erinnern würde, Jean-Pierre war sicher, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, dass sein Bein einen kleinen Schlenker getan hatte, wie ohne sein Zutun. Und selbst wenn, er würde ihr das ausreden. Jean-Pierre hatte Zeit, sich eine Kontovollmacht zu verschaffen und eine junge hübsche Wächterin einzustellen. Marga konnte sich nicht einmal erinnern, die Wächter entlassen zu haben. Sie fragte nach Griselidis aber im Krankenhaus waren keine Hunde erlaubt. Also fuhr Jean-Pierre Marga im Rollstuhl vor die Pforte, wo Griselidis wartete. Die Hündin versuchte vergebens, sich unter einer Bank zu verstecken, was Marga ganz reizend fand.

Jean-Pierre freundete sich mit den Krankenschwestern an. Eine fand er besonders nett. Die hatte gesagt, dass sie ihn dafür bewunderte, wie er mit seiner … „anspruchsvollen“ Frau umging. Die Krankenschwester war um die 50 und sah nicht besonders gut aus. Aber sie wirkte auf Jean-Pierre strahlend wie ein Engel, da sie die Güte selbst zu sein schien, und so lud er sie zu einem Kaffee in der Krankenhaus-Cafeteria ein. Sie redeten dort aber leider hauptsächlich über Marga. Die Krankenschwester wunderte sich, dass Marga so viel Aufmerksamkeit benötigte. Jedes Mal, wenn Jean-Pierre nach Hause fuhr, ließ Marga sofort ihr Taschentuch fallen und klingelte nach einer Schwester. Dann wollte sie noch, dass man ihr Kissen aufschüttelt und dann begann sie, von früher zu erzählen. Die Krankenschwester, die zu allem Überfluss auch noch Angelique hieß, fügte hinzu, dass die Schwestern leider keine Zeit hätten, sich Margas Erlebnisse anzuhören. Marga aber akzeptierte das nicht, sondern rastete aus und warf den Schwestern, die den Raum verließen, Gegenstände hinterher. Das war umso unangenehmer, da Marga sofort wieder klingelte. Jemand musste doch die Sachen aufheben. Marga lag inzwischen in einem Einzelzimmer, da kein anderer Patient ihr Benehmen tolerierte. Jean-Pierre beteuerte, dass es ihm leid täte, dass Marga soviel Ärger machte. Angelique schaute auch verständnisvoll drein, der arme Mann stand ganz klar unter dem Pantoffel. Trotzdem erklärte sie ihm, dass sie jetzt heimfahren müsse. Ob es denn jemanden gibt, der dort auf sie wartet, wollte Jean-Pierre wissen. Und Angelique lächelte milde, als sie ihm mitteilte, dass sie seit 20 Jahren mit ihrer Lebensgefährtin die Wohnung teilte.

Ein Gutes hatte es aber trotzdem für Jean-Pierre: das Gespräch mit Angelique hatte ihm klargemacht, dass es ein Leben außerhalb des Einzugsbereichs von Marga gab. Er ging aus dem Krankenhaus, zum Parkplatz, wo gerade eine Familie mit Kindern aus dem Auto stieg. „Wie es wohl ist, Kinder zu haben?“ fragte er sich. Für ihn war es jetzt wahrscheinlich zu spät. Und er begann zu grübeln, warum er und Marga eigentlich keine Kinder hatten. Sie hatte nie gewollt, nahm er an. Aber er wusste es nicht genau. Das war nur so ein Gefühl gewesen. Er hatte nie direkt gefragt, er hatte nur gedacht, sie wolle in diese schreckliche Welt keine Kinder setzen. War die Welt denn überhaupt so schrecklich? Leute ließen sich scheiden und verließen ihre Frauen. Das war doch schrecklich, oder? Marga sagte zumindest immer, dass das schrecklich sei. Außerdem gab es in so vielen Gegenden der Welt Hunger, Krieg, Umweltverschmutzung und Handys. Wenn sie Kinder gehabt hätten, dann wären die jetzt selbst schon wieder erwachsen und könnten selbst entscheiden, ob sie in dieser angeblich so schrecklichen Welt leben wollten. Oder ob sie gar eigene Kinder haben wollten. Jean-Pierre musste an seinen und Margas Patensohn denken, der Selbstmord begangen hatte. Er hatte offensichtlich nicht in dieser Welt leben wollen. Aber der Junge litt unter Depressionen. „Vielleicht leide ich auch unter Depressionen?“ fragte sich Jean-Pierre jetzt. Dann schüttelte er energisch den Kopf, es brachte überhaupt nichts, zu denken, man musste handeln. Also fuhr er heim und las ein Buch.

Teil 1: Voodoo
Teil 2: Es hat Füße
Teil 3: Marga schreibt ein Buch
Teil 4: Griselidis
Teil 5: Jean-Pierres Wunsch geht in Erfüllung
Teil 6: Reinkarnierte Hunde
Teil 7: Abstürze
Teil 9: Auferstehung

Hier ist das zweite Buch Leben ohne Marga von Charlotte Palme nachzulesen:
Teil 1: Leichenschmaus
Teil 2: Relativitätstheorien
Teil 3: Jagdfieber
Teil 4: Das Frohe leben am Hofe