Früher war Jörg Kachelmanns Blick in die Wolken gerichtet, jetzt sieht er droben vielleicht sein verloren gegangenes Image. Denn der Zirkus war in der Stadt: Geht ein großer Medien-Prozess zu Ende, fragt man sich, was die Medien-Gesellschaft für sich aus dem Irrwitz-Event lernen kann. Eine Erkenntnis, ein Lichtblick, irgendetwas, das uns alle weiterbringen könnte.

Man erinnert sich an andere Medien-Ereignisse, die später auch in Gerichts-Prozessen gipfelten:

  • Gladbeck: Da war das Geisel-Drama von Gladbeck, bei dem Journalisten aktiv in die Situation eingriffen und die Schreckens-Tat zur Reality-Show verkommen ließen.
  • Andreas Türck: Da war ein anderer dem Kachelmann-Fall ähnlicher Prozess, bei dem Nachmittags-Show-Moderator Andreas Türck der Vergewaltigung angeklagt worden war.
  • Marianne Bachmeier: Man denkt andererseits an den Prozess gegen Marianne Bachmeier, die zuerst im Gerichtssaal den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter erschossen hatte und dann, als ihr der Prozess gemacht wurde, von einer publizistischen Welle begleitet wurde, in deren Verlauf der „stern“ beispielsweise eine äußerst detailreiche Fortsetzungs-Geschichte brachte, die die Tat aus der Lebensgeschichte Marianne Bachmeiers herleitete und damit – wie es damals hieß – die Neutralität des Gerichts erschwerte. Später hatte es geheißen, die Medien hätten mehr an Hintergrund-Wissen gehabt als die Richter selbst.

Das kann eines der Probleme sein, wenn Prozesse und die Abwägung der Fakten öffentlich stattfinden: Die Richter als Teil der Medien-Gesellschaft können nicht mehr neutral sein und sich nicht mehr nur auf die Fakten konzentrieren. Sie sind mit Stimmungen und Emotionen konfrontiert, die sie nicht unbeeinflußt lassen.

Fakten-Salat und Web-Öffentlichkeit

Lohnt ein Erkenntnis-Gewinn im Prozess um den Wetter-Moderator und Medien-Prominenten Jörg Kachelmann, der wegen der Vergewaltigung seiner Ex-Freundin in einem besonders schweren Fall angeklagt worden war, überhaupt? Gestern morgen wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Prozess-Beobachter hatten mit kritischem Blick auf die Arbeit der Staatsanwaltschaft am Landgericht Mannheim bereits zu Anfang des Prozesses gemutmaßt, dass wohl kein harter Beweis für die Anklage beigebracht werden konnte und selbst die Stichhaltigkeit der Aussagen der mutmaßlich Vergewaltigten eher Fragen aufwarfen als beantworteten. Das lag mit daran, dass das mutmaßliche Opfer sich in Lügen verstrickt hatte. Ein Übriges taten die zahlreichen Gutachten und Gegengutachten, die aber auch kein eindeutiges Ergebnis brachten. Was aber immer über dem Fakten-Salat schwebte, war die vielstimmige Web-Öffentlichkeit, die nie verstummte und alles wußte – auch das, was sie gar nicht wissen konnte, nämlich, was tatsächlich zwischen Kachelmann und dem mutmaßlichen Opfer geschehen war.

Freispruch „1. Klasse“ und „2. Klasse“

Der Freispruch aus Mangel an Beweisen wird in den Medien als Freispruch „zweiter Klasse“ gedeutet, ein Freispruch „erster Klasse“ wäre es gewesen, wenn die Beweislage eindeutig zugunsten des Beklagten ausgefallen wäre. Dass unser Rechts-System aber anders funktioniert und der Freispruch, der erfolgt ist, nicht klassifiziert werden sollte, ist keine Nebensache. Denn bei der Rechts-Sprechung geht es um die möglichst lückenlose Ermittlung der Vorfälle. Das Instrument der Rechts-Sprechung ist die Beweis-Führung. Ist diese nicht möglich, weil keine Beweise vorhanden sind oder diese keine Aussagekraft besitzen, wenn sie beispielsweise in die eine oder andere Richtung interpretiert werden könnten, wie im vorliegenden Fall, versagt das System. Tatsächlich geht es im formalrechtlichen Sinn gar nicht darum, ob Jörg Kachelmann vergewaltigt hat, sondern ob ihm die Tat nachgewiesen werden kann. Das ist ein entweder/oder-Prinzip – und deshalb gibt es keinen Freispruch erster oder zweiter Klasse, sondern nur den einen Freispruch oder die eine Verurteilung. Alles andere sind Medien-Wirklichkeiten und ihre Wertungen, die mit unserem Rechts-System und seinen Gesetzmäßigkeiten nicht kompatibel sind.

Virtuelle Stammtische als Meinungsbildner

Die Medien hatten im Prozess gegen Jörg Kachelmann die Rolle des Anklägers und des Verteidigers zugleich inne, haben die Argumente gewichtet und teils Position bezogen. Viele Kommentare in Foren aber auch auf reichweitenstarken großen Nachrichten-Webseiten setzten sich zum Teil mit der Problematik auf Stammtisch-Niveau auseinander – sprich: Es ging nicht um Fakten sondern um undifferenzierte Meinungen. Manchmal hatte man den Eindruck, als säße die Öffentlichkeit zu Gericht und die Medien leisteten die Gerichts-Arbeit, dass sich der eigentliche Prozess nicht im Gerichts-Gebäude vollzog, sondern vor allem im Web, der großen Meinungs-Maschinerie, auch im Fernsehen und in den gedruckten Medien – potenziert durch die Mund-Propaganda der Medien-Konsumenten. Die Angelegenheit wirkt wie ein Kasperl-Theater. Nur, wenn man Kasperl sieht und hört und meint, ihn kompetent beurteilen zu können, weiß man noch lange nicht, was der Puppenspieler denkt, denn den kann man gar nicht sehen, genauso wie niemand aus dem Publikum weiß, was zwischen Jörg Kachelmann und seiner damaligen Freundin passiert war. Wieder einmal war also ein medial geformter Schau-Prozess entstanden, bei dem Medien-Konsumenten die Wirklichkeit mit der Medien-Realität vertauscht haben. Die Vor-Verurteilung von mutmaßlichem Opfer und Angeklagtem durch die Medien-Meinungs-Mache war immens. Wenn aber Meinungen Fakten ersetzen, ist eine Annäherung an die tatsächlichen Ereignisse schwer.

Medien-Tsunamie und Reiz-Überflutung

Aber wie konnte es dazu kommen, dass die Medien ihre Avatar-Funktion so dominant einnehmen konnten? Selbst das Mannheimer Landgericht hat in seiner Urteils-Begründung die Medien kritisiert, die wiederum den ganzen Prozess über das Gericht und seine Arbeit kritisch begleitet hatten. „Die Medien“, das sind heute nicht nur die Publizistik sondern eine vielstimmige Öffentlichkeit, die sich über Kommentarfunktionen auf großen und kleinen Internetseiten äußert, die facebookt, bloggt und twittert – und dies permanent und augenblicklich, eben in Echtzeit. Die Frequenz all der oft undifferenzierten Meinungs-Äußerungen hat zugenommen, manchmal endet sie in einem multimedialen Crescendo, den der Begriff der „Reizüberflutung“ noch untertreiben würde. Hinzu kommt die schiere Menge der oft hundertfach wiederholten Inhalte des medialen Walzwerkes, die über das Internet in Form einer Informations-Lawine Verbreitung findet. Der Presse wurde in der Urteils-Begründung mangelnde Zurückhaltung vorgeworfen. Sie hätte zu schnell Prognosen abgegeben, hätte gewertet, wo Neutralität geboten gewesen wäre. Dies habe der Wahrheits-Findung geschadet. Doch wie konnte es dazu kommen?

Die Medien als Statisten im Strategie-Spiel

Es wurde zu Anfang des Falles kolportiert, die Mannheimer Staatsanwaltschaft habe den Medien interne Informationen zugespielt, um Meinungsmache zu betreiben. Beide Seiten, mal die Verteidigung, mal die Staatsanwaltschaft, hätten, wo es strategisch jeweils am besten passte, um die Meinung der Öffentlichkeit zu beeinflußen, den Medien Gutachten und viele interne Details zugespielt. Ab einem sehr frühen Zeitpunkt lagen die intimsten Details vor der Öffentlichkeit ausgebreitet. Ein fataler Kreislauf war in Gang gesetzt worden. Die Prozess-Gegener hatten das Interesse, die Öffentlichkeit über die Medien auf ihre Seite zu ziehen. Die Medien hatten wie immer das Interesse an „heißen“ Neuigkeiten. Welches Medium wollte aus Gründen der Pietät intime Informationen nicht thematisieren und damit der Medien-Konkurrenz einen informationell-sensationellen Vorsprung lassen? Also mußte sich die Spirale des nicht endenden Informationsflusses immer schneller und immer detaillierter drehen.

Die hemmungslose Berichterstattung

Während also die Medien hemmungslos berichteten, Ex-Geliebte von Kachelmann für viel Geld Interviews gaben, während es zu einer medialen Nebenkriegs-Schlammschlacht zwischen der Gerichts-Reporterin des Nachrichten-Magazins „Spiegel“, Gisela Friedrichsen, und der „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer kam, während ein Gutachten das nächste Gegengutachten jagte, als sei die Wahrheit Auslegungs-Sache, während die Medien der Staatsanwaltschaft und dem Mannheimer Gericht Vorwürfe machten und die Gerichtsbarkeit umgekehrt den Medien, schien es einen Moment lang so zu sein, als hätte sich die Gewaltenteilung im Land verändert. Es war, als würde die sogenannte vierte Gewalt in Form der Presse und der Medien der Judikative (Rechtsprechung) ihren Status streitig machen wollen. Insgesamt fatal erscheint, dass ein sich gegenseitig bedingender Interessen-Kreislauf entstanden war, bei dem jede Seite die Wirkung von Informationen auf die öfffentliche Wahrnehmung mit einkalkulierte und in ihre Handlungs-Konzepte integrierte. Das hat dazu geführt, dass ehrenrührige Details, die außerhalb des Gerichtsgebäudes eigentlich nur Voyeure interessieren konnten, aus dem Leben des mutmaßlichen Opfers und des mutmaßlichen Täters an die Öffentlichkeit gelangten. Gestern wurde irtümlich sogar eine Pressemitteilung des Mannheimer Gerichts veröffentlicht, in der der bis dahin geschützte vollständige Name des mutmaßlichen Opfers zu lesen war.

Berufsbild „Medien-Hure“

Einmal mehr sind die Medien instrumentalisiert, einmal Mehr ist die Wahrheit unter einem Berg an Informations-Müll verschüttet worden. Der in der Medien-Unendlichkeit dokumentierte Verlauf der Verhandlung vor Gericht trug die Züge eines Volksentscheids. Dabei haben manche klassischen Medien die Grenzen des guten Geschmacks für höhere Auflagen und höhere Klickraten einmal mehr überschritten und sind zur Info-Hure mutiert, indem sie die vor Gericht Stehenden bzw. Aussagenden vor der Öffentlichkeit unnötig entblößt haben. Nicht zu reden vom Scheckbuch-Journalismus: Einige Ex-Beziehungen Kachelmanns haben für Interviews gut kassiert.

Informationelle Ausweidung und Promi-Abbild

Staatsanwälte könnten aus den Geschehnissen lernen, dass Medien zu steuern, ein unkalkulierbares Risiko darstellt und dass interne Unterlagen wie Gutachten über psychische Befindlichkeiten auch intern bleiben sollten. Rollt die Informations-Lawine einmal, kann es passieren, dass die Wahrheit unrettbar darunter begraben bleibt. Das andere Ende der Fahnenstange sind die sogenannten „Medien-Anwälte“, die einen de-facto-Pakt mit dem Teufel eingehen, weil auch sie die Medien für sich nutzen wollen: Als Meinungsmache-Instrument, das Druck ausübt. Das Echtzeit-Medium „Internet“ mit seiner Transparenz, bei der Klick-Raten und damit Erfolge von Beiträgen augenblicklich zu sehen sind, hat einiges verändert: Erfolgs- und Konkurrenz-Hysterie sind drängender geworden, die Jagd nach Sensationen oder zumindest nach Informationen, die man dazu umformen kann, erfolgt immer atemloser und rund um die Uhr. Das Risiko für Prominente, im Falle eines Skandals informationell ausgeweidet zu werden, ist gestiegen. Von dem positiven Image der Medienfigur Jörg Kachelmann, das auch nur ein heiles Wunschbild der Fernseh-Zuschauer war,  ist, nachdem sie durch den medialen Fleischwolf gedreht wurde, nicht mehr als ein surreales Zerrbild der Abgründigkeit übriggeblieben.