Boeser Blick„Es ist besser, für das, was man ist, gehasst, als für das, was man nicht ist, geliebt zu werden.“ (André Gide) Man selbst zu sein, ist vor allem dann relevant, wenn man abweicht von der Norm, etwa indem man Konventionen oder Tabus bricht. Konventionen politischer Etikette verletzen etwa Donald Trump oder Boris Johnson. Was für die Politik der wirren oder kunstvoll gegeelter Haare zur Zeit gilt, nämlich eine Art Anarchismus, kommt in anderer Form aus der Kunst, die in Teilen immer schon anders war als alles andere in der Gesellschaft.

Dabei scheint einer der Nachteile einer übersättigten, reichen Gesellschaft ihr Hang zur Konformität zu sein. Auffällig etwa in der Politik ist die Durchschnittlichkeit und mangelnde Individualität der Akteure.

Politik als Abziehbild

Waren in den Anfängen der Republik sperrige Charaktere wie Herbert Wehner, Willy Brandt oder Franz-Josef Strauß an den Schalthebeln der Macht, entfernten sich die Politiker gerade ab den 1980er-Jahren immer weiter davon, Originale zu sein und wurden zu Abziehbildern der Stromlinienförmigkeit im Windkanal der Medienrealitäten. Die Angst vor dem Mut, ein echter Mensch mit Ecken und Kanten zu sein, der sich angreifbar macht und wehrhaft sein muss, schien im Medienzeitalter übermächtig.

Einstürzende Aalglatt-Fassaden

Der Politiker als aalglatter Mediensurfer, der sich entweder vor Konflikten wegduckt und sowieso lügt, dass sich die Balken biegen, wurde zum Symbol für das, was kommen sollte. Heute im Zeitalter der informationellen Vernetzung ist der Druck, jemand ander zu sein als der, der man ist, größer geworden. Abweichende Meinungen und abweichendes Aussehen, abweichendes Verhalten und abweichendes Denken werden blitzschnell sanktioniert. Nun gibt es eine brachiale Gegenbewegung, die das vermeintliche Gegenteil von dem macht, was als Mainstream angesehen wird. Ihre Kummulationspunkte finden sie in kabaretthaften Figuren wie Donald Trump oder Boris Johnson, die gelernt haben, dass viele Wähler den glatten Politikerfassaden nicht mehr trauen.

Der Künstler als Außenseiter

Richtet man den Blick auf die Kunst, verbindet sich mit dem vorher Gesagten eine anderer Aspekt: dem des Künstlers, der immer schon der Andersartige, der Andersdenkende und somit der Abweichende war. So gesehen haben Politiker wie Donald Trump und Boris Johnson oder viele rechtsradikale Politiker in der AfD längst ein neues Zeitalter des Verhaltens eingeleitet. Sie brechen die Regeln der Vernunft, des zivilisierten menschlichen Umgangs und wollen durch diesen kalkulierten Tabubruch Originale der Unmenschlichkeit sein. Sie halten sich an keine Regeln der Mitmenschlichkeit und kehren das Schlechte heraus. Denen, die nichts mehr zu verlieren haben oder denen, die Angst haben, zuküntig zu den Verlieren zu gehören, gefällt’s. Auch denen, die die Uhr zurück drehen wollen, denen die Erungenschaften von Aufklärung und Modernität zu kompliziert für ihr einfaches Weltbild sind, gehören dazu.

Exotische Normalität

Der Künstler muss dies zwangsläufig aus einer anderen Perspektive betrachten. Wenn Regellosigkeit, Tabubruch und krasse Andersartigkeit zum gesellschaftlichen Mainstream werden, verändert sich damit auch die Alleinstellung der künstlerischen Exotik. Wenn die Gemeinsamkeiten innerhalb der Gesellschaft schrumpfen und nur noch singuläre Meinungen und Weltsichten nach vorne drängen, wird auch der Künstler tendenziell zum Mainstream. Wenn alle etwas vermeintlich Besonderes sind, stellt sich die Frage nach der Besonderheit deren Menschseins. Denn eigentlich will niemand ein Abklatsch oder ein Nachahmer werden. Im Chaos wird dadurch plötzlich die Normalität wieder zur Ausnahme. Vielleicht sollten angesichts Johnson Punkfrisur bzw. Jerry-Lewis-Äußerem, Künstler Anzug und Krawatte tragen.

Der angepasste Künstler

Das klingt nach einer Umkehrung der Verhältnisse. Wo das Besondere normal wird und Normalität plötzlich ein seltenes Gut, entsteht etwas Neues. Kunst, die normal ist, die sich von vornherein gesellschaftlich einfügt, die nicht umstritten wäre, würde eine wichtige Funktion nicht erfüllen: die der Neulanderschließung aus einer Außenperspektive auf die Gesellschaft. Je mehr der Künstler Teil der Gesellschaft und in sie integriert ist, desto mehr käme ihm diese regulative Außensicht abhanden. Der zu integrierte und sozialisierte Künstler würde opportunistisch Handeln und seine Originalität käme ihm abhanden. Eingebunden zu sein ist eine Verunmöglichung eines Perspektivwechsels, der aber neue Kunst erst möglich macht.

Politiker und Künstler

Aber auch der seit Jahnzehnten in seiner Partei vernetzte etablierte Politiker hat Schwierigkeiten, noch über den Tellerrand seiner Parteilichkeit zu blicken. In diesem Punkt würden sich Kunst und Politik also treffen. Während der Politiker ein linear Denkender ist, der strategisch kommunizieren und handeln muss, um Interessen zusammenzubringen und auszugleichen, ist der Künstler ein Querdenker, der chaotisch zwischen sehr unterschiedlichen Ursachen und Wirkungen hin und her springt, weil ihn jeder Augenblick inspirieren könnte. Zum Glück übernehmen Politiker wie Johnson oder Trump nur formal die Aufgabe des Harlequins. Ihr Anderssein ist nicht mehr als eine opportunistische Selbstvermarktungs-Strategie.