Kreuzigung

Als Jean-Pierre am Freitagmorgen erwachte, saß er noch immer in dem unbequemen antiken Stuhl. Sein Rücken schmerzte. Er fragte sich schon seit Langem, wieso antike Möbel so unbequem waren. Vielleicht war es im 18. Jahrhundert verpönt gewesen, zu sitzen oder auszuruhen. Das hätte ihn nicht überrascht, körperliche Hygiene war ja auch verpönt gewesen. Das Buch, über dem er am Abend eingeschlafen war, war heruntergefallen und lag mit aufgeschlagenen Seiten da. Ein politisches Buch, das ihm erklärte, wieso die Weltverschwörung dazu geführt hatte, dass Frankreich zugrunde geht. Beruhigende Literatur, die beim Einschlafen half. Jean-Pierre stand auf und streckte sich. Wo war nur Griselidis schon wieder? Jean-Pierre rief die alte Mopsdame, aber sie kam nicht. Er fand sie schließlich in ihrem Bett, das vor seinem und Margas Ehebett stand. Tot! Normalerweise hätte er es Marga schonend beigebracht, aber Marga lag noch im Krankenhaus und war geistig in keinem guten Zustand. Es war erst 6 Uhr morgens, er hatte noch Zeit, sich eine neue Griselidis zu besorgen. Er packte den kleinen Hundekörper in eine Stofftüte und begab sich in den Park. Glücklicherweise hatte er noch keine neuen Wächter eingestellt. Er wollte Geld sparen. Alles war verwildert und niemand würde Fragen stellen. Er buddelte ein Loch, legte den Stoffbeutel hinein, schaufelte es wieder zu und ging ins Schloss zurück.

Eine Viertelstunde später saß Jean-Pierre geduscht und umgezogen an seinem alten Laptop und suchte nach Mopszüchtern im Internet. Möpse sahen sich glücklicherweise alle ziemlich ähnlich. Um 8 Uhr rief er schon den ersten Züchter an und erklärte dem Mann, dass er ein älteres Weibchen suche. Jean-Pierre hatte Glück. Der Züchter hatte ein älteres Weibchen, das nach einer Unterleibsentzündung keine Welpen mehr bekommen konnte und daher nutzlos für ihn war. Er hatte sich ohnehin schon gefragt, was er mit ihr machen sollte und würde die Hündin daher umsonst abgeben. Es gab bestimmt einen Haken an der Geschichte, aber das war Jean-Pierre egal. Eine halbe Stunde später stand er bei dem Züchter auf der Matte. Der Mops bekam Griselidis Halsband und Leine und Jean-Pierre fand, der Hund sähe perfekt aus. Das Tier war allerdings sehr zutraulich und gar nicht ängstlich. Aber man konnte nicht alles haben. Nach einer Weile mit Marga würde der Hund schon noch ängstlich werden. Jean-Pierre bedankte sich artig und eilte mit dem Hund im Auto zum Krankenhaus. Dann holte er Marga im Rollstuhl heraus und zeigte ihr „Griselidis“. Natürlich sagte er nicht, was passiert war. Er wollte der Natur ihren Lauf lassen. „Was ist denn heute mit Griselidis los?“ fragte Marga entsetzt, als die Hündin versuchte, ihr auf den Schoß zu springen. „Sie freut sich nur, dass es dir besser geht“, behauptete Jean-Pierre mit stoischer Miene. Dabei ging es Marga gar nicht besser.

Zurück im Krankenhaus nahm Angelique, die lesbische Krankenschwester, Jean-Pierre beiseite und erklärte ihm, dass der Arzt ihn sprechen wolle. Es ginge um Margas bevorstehende Entlassung. Als sie Jean-Pierres entsetztes Gesicht sah, vertraute sie ihm an, dass ihre Lebensgefährtin gerade dabei war, ein ambulantes Krankenpflegebüro aufzumachen, bei dem sie auch mitmachen wolle, sobald es sich ein bisschen etabliert hatte. Sie könnten sich um Marga kümmern, wenn es für ihn allein zu viel sei. Jean-Pierre dankte ihr, musste aber erst darüber nachdenken. Er stand unter Schock. Der Arzt, mit dem er danach sprach, erklärte ihm, dass sie für seine Frau nichts mehr tun könnten, sie würde am nächsten Montag entlassen. Jean-Pierre war niedergeschmettert. Zu Marga sagte er jedoch, sie könne sich freuen, in ein paar Tagen sei sie wieder zu Hause, bei ihm und Griselidis. Dann fuhr er zum Gartenmarkt, kaufte einen Rasenmäher, fuhr heim und mähte den Rasen, bis die Nacht hereinbrach. Griselidis fand das aufregend und bellte ihn und den Rasenmäher an. Jean-Pierre sah ein, dass diese Hündin mehr Bewegung brauchte, als die alte Griselidis. Also ging er mit ihr spazieren.

Jean-Pierre und der Mops wanderten im Mondschein über die Landstraße. An der nächsten Ecke staunten sie nicht schlecht, denn eine Frau mit einem kleinen langhaarigen Hund an der Leine kam ihnen entgegen. Der Mond ließ ihr Gesicht leuchten und ihre langen dunkelgrauen Haare waren wie ein Tuch, das die Frau sich um die Schultern gelegt hatte. Die beiden Menschen begrüßten sich, während die Hunde einander beschnüffelten. Die Frau war seine Nachbarin, schon seit ein paar Jahren. Aber er war ihr trotzdem nie begegnet, bis heute. Jean-Pierre starrte die Frau an, er wollte unbedingt mit ihr reden, ihre Bekanntschaft machen, sie zu sich einladen, am besten in sein Bett und dann sein Gesicht in ihr langes graues Haar versenken, oder woandershin an ihr. Das war Liebe auf den ersten Blick, fand er. Dabei hatte er nie daran geglaubt, dass es so etwas gab. Dass die Liebe auf den ersten Blick von einem Überschwang an Hormonen ausgelöst wurde, wunderte ihn nicht, es überraschte ihn aber, dass er überhaupt noch einen Überschwang produzieren konnte. Die Nachbarin sagte mit rauchiger Stimme, die bei Jean-Pierre eine Gänsehaut auslöste, dass sie an diesem Abend so unruhig gewesen sei, normalerweise gehe sie nie mit ihrer Lhasa Apso-Hündin so spät noch raus. Jean-Pierre stimmte zu, es sei ihm genauso gegangen. Die Augen der Frau erschienen ihm wie dunkle Teiche, in die er hineinspringen wollte. Er wusste nicht wie es passiert war, aber auf einmal standen sie vor dem Gartentor der Nachbarin, Anne-Catherine. Ein wunderschöner Name, fand Jean-Pierre. Ob er noch auf eine Tasse Kräutertee oder ein Glas Wein hereinkommen wolle, fragte die Frau. Jean-Pierre war alles recht, er hätte auch Schwefelsäure mit ihr getrunken, wenn er dadurch nur in ihrer Nähe bleiben konnte.

Dann saß er unglaublich zufrieden auf Anne-Catherines Sofa, das mit dunkelrotem Samt bezogen war, und nippte an einem Glas mit rotem, samtigen Wein. Neben ihm saß Anne-Catherine und zu ihren Füßen balgten sich ihre kleinen Hunde. Jean-Pierre hatte Anne-Catherine alles über seine Ehe mit Marga erzählt. Als er von dem Treppensturz berichtete, nahm Anne-Catherine seine Hand und murmelte: „so weit hat sie dich gebracht.“ Dann fragte sie Jean-Pierre: „Was willst du denn jetzt machen?“ „Ich kann mich nicht scheiden lassen“, antwortete er. „Ich habe nur eine ganz winzige Rente, davon könnte ich nicht leben. Und ich kann Marga doch nicht auf Unterhalt verklagen. Selbst wenn ich das versuchen würde, sie hat gute Anwälte, das würde sich endlos hinziehen.“ Jean-Pierre hatte sich für Marga aufgeopfert und wie ein unbezahlter Kammerdiener gelebt. Das hat man also davon, wenn man eine reiche Frau heiratet. Jean-Pierre eignete sich nicht wirklich zum Mörder, das hatte er ja auch schon versucht. Er wollte auch nicht, dass jemand anders das für ihn übernehmen musste. Er würde auf jeden Fall Marga aus der Klinik nach Hause holen müssen. Jean-Pierre fragte Anne-Catherine, ob er bei ihr wohnen könne. Wenn er die Nächte bei ihr verbringen konnte, würde er vielleicht die Tage mit Marga ertragen. Außerdem gab es ja noch den Pflegedienst. Flehentlich sah er die Frau an. Fast hätte er geweint. Anne-Catherine erwiderte lächelnd: „ich habe gerade nichts anderes vor.“ Dann liebten sie sich auf dem Flokati vor dem Kamin. Die Hunde sahen zu und wuffelten manchmal zustimmend. Alles war, wie es schon immer hätte sein sollen. Vom Teppich zogen sie schließlich ins Bett um. Da war es bequemer und irgendwann schliefen sie doch noch ein.

Unbarmherzig klingelte der Wecker. Jean-Pierre schaute die Frau in seinen Armen an und es war Anne-Catherine. Eine Sekunde lang hatte er befürchtet, er hätte geträumt oder sei verrückt geworden. Behutsam bettete er die Frau um und machte dann den Wecker aus. Er stand auf. Schrieb auf ein kleines Zettelchen, dass er ins Krankenhaus fahren müsse, warf sich Wasser ins Gesicht, zog sich an und ging mit Griselidis zum Auto.

Marga sagte er nichts. Er wusste nicht wieso, es musste an seiner Einstellung liegen, aber heute sah Marga anders aus. Sie hatte sich wie immer geschminkt, aber heute fand er, dass sie wie ein Clown aussah. Das war ihm vorher noch nie aufgefallen. Mascara und Kajalstift waren dick im Stil der 60er Jahre aufgetragen, Margas bester Zeit. Die Augen lagen daher in dunklen, leicht verschmierten Höhlungen. Die Augenbrauen hatte sie schief übermalt und der Lippenstift war nicht nur auf den Lippen, sondern ragte großzügig darüber hinaus. Auf den Wangen hatte sie annähernd kreisrunde rote Flecken, dabei handelte es sich wohl um Rouge. Jean-Pierre starrte seine Angetraute an und sagte nichts. Die hielt ihm die Wange zum Kuss hin und forderte ihn schließlich auf: „Na, was ist denn heute mit dir los? Du bist ja noch dämlicher als sonst.“ Auch, dass sie ihn beständig beleidigte, war ihm gar nicht so aufgefallen. Man gewöhnt sich halt daran. Sie meinte es doch nicht so, oder vielleicht doch? Jean-Pierre küsste Marga auf die Wange. Dann brachte er sie hinaus, um die Hündin zu begrüßen. Die neue Griselidis gähnte und reagierte ausgesprochen desinteressiert. „Was ist denn heute mit Griselidis los?“ fragte Marga. „Ist sie vielleicht krank?“ „Wir haben nur so schlecht geschlafen, alle beide, weil wir uns solche Sorgen um dich machen“, behauptete Jean-Pierre und schämte sich nicht im mindesten. Dann sagte er wahrheitsgemäß, der Arzt habe ihm eine Liste gegeben, mit Sachen, die er noch kaufen solle, damit Marga es zu Hause auch gut habe. Er brachte Marga wieder hinein und verabschiedete sich. In einem Sanitätshaus verprasste er froh Margas Geld für ein Krankenbett, Kissen, Gelkissen, einen Rollstuhl, einen Toilettenstuhl und einen Rollator. Er rief Angeliques Lebensgefährtin an und verabredete, dass der Pflegedienst ab Dienstag dreimal täglich kommen solle, um Marga zu waschen und ihr das Essen zu reichen. Das Essen wollte er erstmal noch weiter zubereiten. Aber vielleicht war Essen auf Rädern auch eine gute Lösung. Dann ging Jean-Pierre in den Garten, sammelte trockene Äste, machte ein Feuer und verbrannte darauf den Katheter. Es ging auch ohne Katheter. Es ging sogar viel besser ohne Katheter und er wollte wenn möglich nie wieder in seinem Leben einen Katheter sehen. Er wusste gar nicht mehr, wie ihm das hatte passieren können. Als er alles erledigt hatte, ging er zu Anne-Catherine. Schon als er das Gartentor öffnete, war ihm, als fiele alles von ihm ab. Die ganzen Jahre mit Marga. Seine Schultern strafften sich. Er konnte wieder aufrecht stehen.

So ging die Zeit herum bis zum Montag und Jean-Pierre holte seine Frau aus dem Krankenhaus ab. Das Bett hatte er im großen Salon im Erdgeschoss aufgestellt. Er hatte die beiden lebensgroßen Schaufensterpuppen, die eine junge Marga und einen dicken Beniamino Caruso darstellten, vom Speicher herunter geholt und in eine Ecke gestellt. Auf einem antiken Hundebett thronte ein Plüschmops. Er konnte es Griselidis nicht antun, mit Marga allein zu bleiben aber Marga sollte es gut haben, während er es noch besser hatte. Marga schimpfte sehr über den Zustand des Gartens, dann schimpfte sie über das Bett, denn es war nicht antik. Dann schimpfte sie über das Essen, das Jean-Pierre gekocht hatte. Dann schimpfte sie über den Toilettenstuhl und schließlich fragte sie, wo der Katheter sei. „Den habe ich verbrannt“, antwortete Jean-Pierre trocken. Dann verabschiedete er sich und ging mit Griselidis einfach hinaus. Das Geschrei Margas folgte ihnen noch ein Stückchen nach.

Den Rest ihres Lebens verbrachte Marga im Krankenbett im großen Salon. Es gab Essen auf Rädern und der Pflegedienst kam dreimal am Tag. Auf der Stereoanlage spielte beständig leise klassische Musik. Hauptsächlich Opern. Am Anfang schrie Marga noch alle an, aber irgendwann wurde sie still. Es reagierte sowieso niemand. Nicht einmal das Herumschreien machte noch Spaß. So lag sie tagein tagaus schweigend im Halbdunkel, den Blick nach innen in eine andere Welt gerichtet. Das Pflegepersonal dachte inzwischen, Jean-Pierre sei der fürsorgliche Nachbar. Sie dachten auch, dass Marga eine berühmte Operndiva gewesen war. Alle hatten Mitleid mit Marga und alle waren froh, als Marga schließlich starb. Wenn das Jenseits für jeden Menschen bereit hält, was er sich am meisten wünscht oder fürchtet, dann wurde Marga dort bestimmt mit Beniamino Caruso und der echten Griselidis vereint. Sie würden Opern singen und in Barockschlössern wohnen, mit Dutzenden von Bediensteten, die alle wussten, was man mit Kathetern macht.

Teil 1: Voodoo
Teil 2: Es hat Füße
Teil 3: Marga schreibt ein Buch
Teil 4: Griselidis
Teil 5: Jean-Pierres Wunsch geht in Erfüllung
Teil 6: Reinkarnierte Hunde
Teil 7: Abstürze
Teil 8: Schrecken

Hier ist das zweite Buch Leben ohne Marga von Charlotte Palme nachzulesen:
Teil 1: Leichenschmaus
Teil 2: Relativitätstheorien
Teil 3: Jagdfieber
Teil 4: Das Frohe leben am Hofe