Dass eine neue Stil- oder Kunstrichtung das Werk eines genialen Einzelnen ist, mag ein populärer Mythos sein. Selbst in den Naturwissenschaften basiert das Aktuelle, das Neue, auf dem, das vorher war. (Das gilt zum Beispiel auch für Innovatoren Albert Einstein). Das Neue in der Kunst oder der Gebrauchskunst gestaltet sich so gesehen als Augenblick einer evolutionären Metamorphose der Formen. Der Jugendstil, der die Zeitenwende des Fin de Siècle (übersetzt etwa: „Jahrhundertende“) zwischen 1890 und 1914 begleitete, trat mit einer abstrahiert überbetonten Linearität der Schönheit und der Gediegenheit die Zeitenwende an. Das Fin de Siècle galt dabei als dekadent. Betrachtet man Überästheten wie den Österreicher Gustav Klimt oder den Engländer Aubrey Beardsley ist diese Dekadenz deutlich sichtbar. Überhaupt: Nebensächliches und inhaltlich Unbedeutendes in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, wie das für die Schönheit in der Kunst galt, ist eigentlich ein Frevel. Der Jugendstil tat es. Zu verstehen sind solche Bewegungen nur im Zusammenhang. Hier am Anfang und am Ende des Videobeitrages zu sehen sind das Sammler-Ehepaar Carolyn und René Balcer, und in der Mitte des Beitrags sieht man René Balcer bei einem Vortrag im Virginia Museum of Fine Arts. Es geht dabei um den Künstler Kawase Hasui, der zu den bedeutendsten japanischen Druckgrafikern zählt. Kawase lebte von 1883-1957 und galt als Meister des japanischen Holzschnitts innerhalb der Shin-hanga-Bewegung, bei der Künstler Entwürfe lieferten, die im Holzschnitt umgesetzt wurden. Typisch waren alltägliche Szenen, die traditionelle Landschaften und Stadtansichten enthielten. Shin-hanga wurde von der westlichen Kunst beeinflusst, während Holzschnittkünstler wie Kawase Hasui wiederum auch die westliche Kunstwelt beeinflussten – insbesondere den Jugendstil. Dabei ist zentral, dass der europäische Jugendstil, der etwa 20 Jahre lang zwischen dem 19. zum dem 20. Jahrhundert entstanden war, von der Klarheit der Formen und der floralen Ausgestaltung und Symbolik asiatischer Holzschnittkunst beeinflusst war. In formaler Nachfolge entwickelte sich nach dem Jugendstil zwischen 1920-1940 Art déco, eine designorientierte dekorative Formensprache, die ebenfalls von Klarheit, Eleganz, Rechtwinkligkeit und Symmetrie bestimmt war. Ähnlich wie im Flatdesign heute, fehlte den Motiven Räumlichkeit, die Darstellung war oft flach und unschattiert, was eine Abstrahierung hin zum Plakativen ergab. Auch andere reduktionistische Kunst- oder Gestaltungsbewegungen wie das Bauhaus in Deutschland, De Stijl in den Niederlanden oder Esprit Nouveau in Frankreich korrespondierten formal mit dem Art déco. Und vieles davon war durch Holzschnitte wie die von Kawase Hasui beeinflusst. So reicht die evolutionäre Entwicklung grafischer Stilistiken über mehr als ein Jahrhundert und führt bis zum aktuellen Longshadow-Illustrationsstil. Carolyn und René Balcer schlagen als Sammler der Drucke von Kawase Hasui perrsönliche Bögen innerhalb der Familiengeschichte. René Balcer zeigt in seinem Vortrag, wie variantenreich ein Druckmotiv ausfallen kann und erzählt ein paar schöne Geschichten, womit er die Motivik der Drucke ganz persönlich verbindet.