Menschenopfer„Bis nachher“, sagte die Frau von Dr. Zigian zu ihrem Mann, als der seine Jacke angezogen hatte und in Richtung Haustür gegangen war. Er lächelte sie an. „Bis nachher. Einmal in der Woche ging Dr. Zigian, der Vegetarier war, zum Metzger.

Er betrachtete dort die Auslage mit der Wurst und dem Fleisch und blieb letztlich immer bei der Bärchenwurst stehen, die in einfachen Formen ein tierisches Gesicht abbildete. Je nachdem, was für eine Scheibe jeweils an dem Tag oben lag, wandelten sich die Formen der Tiergesichter.

Dr. Zigian stand an diesem Tag in der zweiten Reihe vor der Metzgertheke und sah zwischen einer Frau und ihrer alten Mutter, die an einem Rollator rechts von ihm stand, hindurch auf den Stapel mit den Bärchenwurstscheiben. Die oberste Scheibe lag nicht plan auf der darunter. Die Verkäuferin musste die Scheibe nach dem Abwiegen als überschüssig wieder zurück auf den Wurststapel gelegt haben, wobei sich eine das Gesicht verunstaltende Falte gebildet hatte.

Dr. Zigian sah das Bärchengesicht an, dass nun aussah wie ein verzerrtes menschliches Gesicht, ein Gesicht größter Ängstlichkeit. Und dann geschah etwas, was noch nie passiert war, seit er diesen Laden betreten hatte. Er wurde gefragt: „Was darf’s sein?“ Dr. Zigian war verdutzt, wusste nicht, was er entgegnen sollte. „Bärchenwurst“, sagte er schließlich, als er sich gefangen hatte. „Haben wir leider nicht“, sagte die Verkäuferin bedauernd. „Nicht?“ fragte Dr. Zigian irritiert. Er schaute in die Auslage der Theke an die Stelle, auf die er kurz vorher zwischen den Frauen hindurchgeblickt hatte, und sah dort Mortadella mit Pistazien. „Führen wir leider gar nicht“, sagte die Bedienung mit noch größerem Bedauern.

Dr. Zigian sah noch einmal zur Mortadella hin, sein Blick verschwamm für den Bruchteil einer Sekunde, und in dem Verschwimmen sah er die faltige Bärchenwurst, sah die große dunkle Öffnung eines Fleischwolfes und darin ein angedeutetes Gesicht.

Er war jetzt ein paar Jahre in der Vergangenheit, in Afrika, Swasiland, in der Stadt Mbabane, stand am Eingang eines überbelegten Hospitals für AIDS-Kranke. Der Papst hatte damals gerade noch einmal verkündet, dass Empfängnisverhütung Sünde sei. Dr. Zigian sah die Frau an. Sie lag auf einem Bett, dünn wie ein Gerippe. Ihre Hautfarbe ging in Richtung Aubergine-Braun, das Dr. Zigian trotz ihres Zustands als wunderschön empfand. Ihre Hautfarbe stand in deutlichem Kontrast zur hellen Bettwäsche. Sie sah Dr. Zigian unter hängenden Augenlidern an. Er erwiderte ihren Blick. So stand er eine Weile da, bis sie etwas sagte, das er aber nicht verstand. Es war eine Sprache, die er ebenfalls als schön empfand.

„Sie spricht in isiNdebele, das hört man hier nicht oft“, sagte die Krankenschwester im Vorbeigehen, „sie stammt aus Simbabwe.“ Dr. Zigian dankte ihr. „Was sagt sie?“ Die Krankenschwester hatte einen Stapel Kopfkissenbezüge auf den Armen und machte schnelle Bewegungen. „Ich weiß nicht genau. Irgendwas mit Himmel.“ Dann war sie wieder verschwunden. Dr. Zigian betrachtete die Wangenknochen der totkranken Frau, die wie Spitzen aus dem schmalen Gesicht ragten. Er ging zu ihr und sagte auf Englisch, dass sie keine Angst haben solle, sie käme in den Himmel, nicht in die Hölle. Er deutete mehrmals mit dem Zeigefinger erst auf sie dann nach oben. Sie war zu schwach, um zu nicken, aber ihre Augen glänzten vor Dankbarkeit. Eine Weile redeten sie miteinander, sie in einer Sprache, die so seltsam fremd und doch vertraut klang und er mit leisen Worten und einem Lächeln, dass ihr Frieden gab. Sie schloss irgendwann ihre Augen, weil sie zu schwach war.

Dr. Zigian sah große Schönheit in ihrem Gesicht und zugleich das Antlitz des Schreckens. Diese junge Frau, die er wie eine verwelkende Blüte empfand, hatte dunkle und helle Flecken und Geschwüre im Gesicht. Ihr Antlitz wirkte wie ein Totenschädel, den man notdürftig mit etwas Haut überzogen hatte. Sie war aufs Äußerste entstellt.
Die Krankenschwester ging wieder vorbei. „Sie ist die Frau eines Mannes, der den Hals nicht voll bekommen konnte“, sagte sie. „Der Mann ist als erster gestorben, sie ist die letzte seiner Frauen, die noch lebt.“ Am Fuß des Bettes saß ein dünner Junge mit leerem Blick, der sich kein einziges Mal bewegt hatte und die ganze Zeit auf den Boden schaute. In seiner Hand, die am Rand des Bettes aufgestützt war, lag eine Kette aus Holzperlen mit einem kleinen Holzkreuz daran. Als Dr. Zigian sich zum Gehen wandte, sah er zurück: die Frau, das Bett, der Junge. Gedämpftes Licht im Raum. Es gab ein schmutziges Deckenfenster, durch ein paar Lichtstrahlen direkt auf das Bett der Frau fielen. ‚Wie ein Heiligenbild‘, dachte Dr. Zigian. Dieses Bild prägte sich ihm ein – für sein Leben lang. Er sollte es noch oft sehen und davon träumen. Es wurde das Bild auf Seite Eins seines imaginären Fotoalbums. Die Schwester hatte ihn verabschiedet und mit dem Kopf eine kaum wahrnehmbare Bewegung hin zum Bett mit der Frau und dem Jungen gemacht: „Er hat es auch.“

Als Dr. Zigian damals zuhause aus dem Flugzeug gestiegen war, war ihm seine Heimat unwirklich vorgekommen, und er hatte eine Zeit gebraucht, um wieder in der Normalität des Alltags anzukommen. Dr. Zigians Frau hörte den Schlüssel in der Tür.

Sie strich ihrem Mann über den Kopf, richtete seine weißen, zerzausten Haare etwas. „Wo warst du? Alles gut?“ Er sammelte sich und nickte. „Alles gut“, sagte er mit belegter Stimme und räusperte sich. Er betrachtete die goldene Kette um den Hals seiner Frau mit dem Kreuz daran und stand dann auf. „Frühstück“, sagte sie. Er lächelte.

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