Al Quaida hat den Westen gedemütigt

Barack Obama ist politisch durch den Tod des alten Widersachers Osama bin Laden zu neuem Leben erwacht

Adolf Hitler, Hanibal Lecter, Osama bin Laden: Drei Namen, drei Symbole für das absolut Böse, aber auch drei unterschiedliche Bedeutungsebenen: Hitler, das Böse in der real-vergangenen Welt, die historisch, psychologisch und politisch erforschte Figur, über die man unendlich viel lesen kann, das Trauma einer ganzen Nation und mehrerer Völker. Hannibal Lecter, die fiktionale Kunstfigur, zerrissen und schwankend zwischen Gut und Böse, unberechenbar, angsteinflössender fast als die Bösen in der wirklichen Welt. Und Osama bin Laden – oder: Usama bin Ladin – der Vordenker von Al Kaida, El Kaida, Al Qaida oder Al Quaida (je nachdem, wo man den Namen liest) ist für den einen Teil der Welt ein Held und Befreier und für den anderen ein fremdartiges Monstrum in Form einer diffusen Medien-Gestalt.

So unscharf wie sein Name oder der seiner Terror-Organisation in der deutschen Übersetzung daher kommt, so uneindeutig bleibt er in der öffentlichen Wahrnehmung als Mensch, nicht aber als Symbol– oder Hass-Figur. Auf der einen Seite der eher zurückhaltend und höflich wirkende Mann, den man nur aus grob aufgelösten Videos oder per Audio-Botschaft kennt, auf der anderen Seite der religiös Verblendete, der Hardliner, der Unmensch, der lächelnd über Leichenberge kraxelt. Er war früh in Afghanistan gegen die Besatzung der Sowjets ein Bündnis-Partner Amerikas gewesen. Der amerikanische Geheimdienst CIA hatte sich seiner bedient, hat ihn aber auch gefördert und zusammen mit den Taliban stark werden lassen, so stark, dass das Amerika übel bekam, als sich Osama bin Laden gegen die Supermacht wandte.

Politische Lüge in Serie: Unsre tägliche Desinformation gib uns heute

Osama bin Laden wurde im Laufe der Zeit oft nachgesagt, er sei gestorben. Wohl haben die Amerikaner immer mal wieder Desinformation betrieben, um durch seinen vorgeblichen Tod Menschen zu verunsichern und gesprächiger zu machen. Andererseits haben seine Unterstützer wohl ebenso desinformiert, um ihn zu schützen: Wer tot ist, den muß man nicht mehr suchen. Der Al Kaida-Gründer selbst mag an diesem Medien-Zirkus ebenso mitgewirkt haben, um Spuren zu verwischen und sich zu schützen. Durch diese mannigfaltigen verbalen Beerdigungen wurde eine Art Phantom geschaffen, der durch die Medien-Berichterstattung geisterte. Dabei gab es ganz real ein paar Mal Vorbereitungen Amerikas, um ihn umzubringen: Mehrere Gelegenheiten hatte der amerikanische Geheimdienst nach 1998 gehabt, das heißt nach den Anschlägen auf die zwei amerikanischen Botchaften in Afrika, nach dem 1. Anschlag auf das World Trade Center, bei dem sechs Menschen ums Leben kamen und eintausend verletzt wurden und lange vor dem 11. September 2001, dem Datum des finalen Schlages gegen das World Trade Center, bei dem 3.000 Menschen getötet und eine ganze Nation in ihrem überzogenen Selbstbild beschädigt wurde. Aber keine der Gelegenheiten war genutzt worden. Das lag in der Regel an der Angst des jeweiligen Präsidenten, der die Tötung Bin Ladens in Auftrag hätte geben müssen. Denn ein Fehlschlag oder ein zu großer Collateral-Schaden in der Bevölkerung wäre unter Umständen innen- und auch außenpolitisch verheerend gewesen. Ursache dafür ist die Vergeltungs-Aktion vom 20. August 1998. An diesem Tag schossen amerikanische Kriegsschiffe Marschflugkörper auf die afghanische Stadt Khost und töteten mehrere Dutzend Menschen – allerdings keinen einzigen Al-Kaida-Führer. Die gescheiterte Aktion war für den damaligen Präsidenten Bill Clinton hochnotpeinlich, innenpolitisch schädlich und für Bin Laden der Beginn einer Art Bullet-Proof-Images. Die nachfolgenden politischen Entscheider im Capitol waren von diesem kapitalen Scheitern beeinflußt und auf lange Zeit hin sollte sich keiner mehr trauen, eine konkrete Entscheidung zur Tötung zu geben, weil ein Scheitern unverzeihlich gewesen und vom amerikanischen Wähler mit „Unfähigkeit“ und „Schwäche“ gleichgesetzt worden wäre. Clinton rief Bin Laden zum Staatsfeind Nr. 1 aus, wagte aber nicht nochmal, den Befehl für eine Tötungs-Aktion zu geben, obwohl theoretisch Gelegenheit dazu bestanden hätte. Mit George W. Bush zogen die vermeintlich entscheidungsfreudigen Konservativen ins Weiße Haus ein. In seine Amtszeit fielen die bedrückenden Anschläge vom 11. September 2011. Aber schon davor war Bin Laden nicht mehr seßhaft und dauernd unterwegs, um kein Ziel abzugeben. Zwischen 1996 und 1998 hatte die CIA genaue Kenntnisse darüber gehabt, wo er sich aufgehalten hatte, hätte also im Rückblick betrachtet, zuschlagen und beide kapitalen Anschläge, die noch folgen sollten, verhindern können. Auch nach dem 11. September, im November 2001, hätte Bush noch einmal alles auf eine Karte setzen können. Bin Laden hatte sich in den Bergen von Tora Bora an der pakistanischen Grenze in seiner Festung verschanzt, es wurde ein kleines Team an US-Soldaten entsandt, das aber auf massivere Bodentruppen-Unterstützung verzichten mußte – wieder konnte Bin Laden entkommen.

Auf der Flucht: Usama bin Ladin ist unfassbar

Osama bin Laden war ab da auf der Flucht, ein Jahrzehnt lang, so die offizielle amerikanische Verlautbarung. Wie sich nun herausstellte, lebte er aber Jahre in Pakistan, dort, wo er nun getötet wurde. Zwischendurch wurde er zum Phantom, tauchte mal hier und mal da in den Medien auf, allerdings zusehends verflüchtigt, unfassbar, mehr durch das ausgezeichnet, was man nicht über ihn wußte, als das, was Klarheit hätte bringen können. Jede dieser Botschaften wurde postwendend in Zweifel gezogen: War er es oder war er es nicht gewesen, der die entsprechende Botschaft mitgeteilt hatte? Oder handelte es sich um eine strategisch motivierte Fälschung? Er könnte aber auch schon längst tot gewesen sein – er, der Nierenkranke, angeblich auf der Suche nach eine Dialyse-Möglichkeit – oder könnte fernab der Zivilisation dahinvegetierend in einer afghanischen Höhle leben. Je länger die Erfolglosigkeit der High-Tech-Macht USA bei der Verfolgung des Hass-Feindes anhielt, desto mythischer erschien Bin Laden, der einerseits angstlos und asketisch wirkte, andererseits klare Worte („Kreuzzügler“) für seine ausländischen Feinde fand und klare Bild-Symbole („Kalaschnikow“ auf jedem Bild) nutzte. Er spielte den entrückten Religionsführer, der er aber gar nicht war. Bin Laden war in seiner schemenhaften Nicht-Existenz durch die rastlose Flucht die zutiefst ernsthafte und bedrohliche Version eines „Running Gag“ geworden: Er geisterte durch die Medien – man schrieb und redete über ihn. All die Fakten über seinen Verbleib, die fehlten, wurden durch Mutmaßungen, durch Theorien, durch Beschwörungen und terroristische Handlungen seiner Epigonen ersetzt und schufen ein schier übermenschliches Bild, das durch seinen Tod nun weiter tanszendiert wurde. Die schnelle Beseitigung des Leichnahms war da eher eine Not-Lösung. Mutiger und ehrenwert wäre es gewesen, ihn lebend gefangen zu nehmen und ihn vor Gericht zu stellen. Aber welcher Politiker hätte einen solchen Befehl, der eine zu hohe Wahrscheinlichkeit zu scheitern gehabt hätte, gegeben? Barack Obama ist auch so durch Befehligung der Todes-Aktion ein hohes Risiko eingegangen. Bei scheitern der Mission hätte er als zupackender Präsident endgültig ausgedient. Töten aus Polit-Image-Gewinnlerei – das ist die Fortführung einer langen amerikanische Tradition.

Wie lang ist der Schatten, den Osama bin Laden’s Image wirft?

Selbst der Tod Bin Ladens wurde in den Medien mit einem Bild begleitet, das ihn nachweislich gar nicht zeigte. Eine jahrealte Fotomontage, die durchs Internet eierte. Wieder Desinformation, die wilde Theorien befeuerte. Allerspätestens hier konnte jedem klar werden, dass die Jagd auf Osama bin Laden, die der Suche nach einem Unsichtbaren glich, auch ein Informations-Krieg war. Die Aktivitäten nach dem Anschlag auf die Twin-Towers in New York lösten sehr reale Kriege aus, verschlangen zig Milliarden, für die Amerika sich weiter verschulden mußte, und gipfelten in einer Hinrichtung, die per Navy-Seals-Helmvideo aufgezeichnet und live nach Washington in den Regierungssitz übertragen wurde. Es wurden dort im Weißen Haus auch Fotos gemacht: Von Barack Obama und seinem Führungs-Stab, die die Anspannung während der Tötungs-Liveübertragung zeigten – und auch das geplante Kalkül, diese Fotos des amerikanischen Präsidenten der Weltöffentlichkeit zu zeigen, um ihn als großen Feldherren zu profilieren, damit er als Führungsfigur, die im nächsten Jahr wiedergewählt werden will, wieder an politischer Statur gewinnt. Warum sonst hätte in dieser eilig einberufenen Sitzung, zu der Präsident Obama vom Golf-Parcours eilen mußte, ein Fotograf anwesend sein sollen, wenn nicht klar war, dass dieser Augenblick Geschichte machen könnte? Die grausigen Fotos des erschossenen und am Kopf zerfetzten Osama bin Laden, die vorhanden sein sollen aber nicht freigegeben werden, werden vielleicht doch als Beweis für den Tod Bin Ladens irgendwie den Weg in die Öffentlichkeit finden – vermutlich wahlkampftaktisch so gut getaktet, dass sie ihre größtmögliche Wirkung entfalten können, indem sie die Stärke und Größe einer Nation vergangener Tage beschwören. Denn noch ein anderer Verdacht drängt sich im Moment auf: Es wurde kolportiert, man habe die Aktion zur Tötung Bin Ladens unter dem Druck der Publizierung von Afghanistan-Protokollen durch Wikileaks durchführen müssen, in denen sowohl der Name des Bin-Laden-Kuriers als auch der Name des Wohnorts Bin Ladens genannt wurde. Tatsächlich sind diese Protokolle aber gut drei Jahre alt. Der amerikanische Geheimdienst wußte also unter Umständen bereits seit dieser Zeit, wo sich Bin Laden aufhielt bzw. aufhalten könnte. Wenn dem so ist, könnte die jetzige Terminierung der Tötung Bin Ladens dem bevorstehenden Wahlkampf geschuldet sein. Das kann so sein oder aber es kann einfach nur eine weitere von vielen Verschwörungs-Theorien sein. Jedenfalls kam der Tötungs-Termin rechtzeitig, um das Image des in der amerikanischen Öffentlichkeit als entscheidungsschwach geltenden US-Präsidenten mit einem Paukenschlag, der nicht heftiger hätte ausfallen können, aufzuwerten. Das Taktieren und Desinformieren aller Seiten hat zu einem tiefen Misstrauen der Welt-Öffentlichkeit geführt, was denn nun wahr ist und was nicht – und Verschwörungs-Theoretikern aller Coleur Vorschub leistet. Dies hat sich auch bei den Geschehnissen bezüglich der Terroranschläge, denen die Twin-Tower zum Opfer gefallen waren, gezeigt: Neben den offiziellen, lückenhaften und verspäteten Berichten zum Tathergang, gab es eine Fülle an Gegen-Theorien, die es über YouTube und andere Plattformen bis in die Mainstream-Medien schafften und nebenbei einmal mehr aus Osama bin Laden ein Faszinosum werden ließen.

Beträchtliche Wirkung auch weit über den Tod hinaus

Nach seiner Tötung frohlockt ein Teil der Welt. Selbst Angela Merkel sprach in ihrer öffentlichen Stellungnahme vor laufenden Fernsehkameras, dass sie sich freue, dass Bin Laden getötet wurde. Die Demokratie zeigt ihre Zähne. Ein Artikel in Welt-Online rechtfertigt selbst das Gefangenenlager Guantanamo, das einen Rechtsbruch der amerikanischen Verfassung darstellt und in dem gefoltert wird – mit dem Argument, dass nur durch diese Informationen letztlich Bin Laden gefasst werden konnte. Selbst „Waterboarding“, eine Foltermethode, bei der der Häftling kurz vor dem Ertrinken ist, wird für legitim gehalten. Die Botschaft: Der Zweck heiligt die Mittel. Der Kommentator Doriangrau1966 schreibt zu diesem Artikel: „Für welche Zwecke ist es denn legitim, zu morden, zu foltern und in andere Länder einzumarschieren: Killen eines eventuellen „Terrorfürsten“? Ein Land hat eventuelle Massenvernichtungswaffen? Ein Volk braucht Lebensraum? Ein Gott befiehlt es? Wenn der Zweck alle Mittel heiligt, dann wird jeder seine Gründe finden.“

The Good, the Bad and the Ugly: Druck von außen als Futter für die Hardliner

Es ist verblüffend zu sehen, wie weltweit ein Freuden-Taumel gerade auch unter Politikern losgebrochen ist, weil Bin Laden getötet wurde. Vermutlich haben sie einfach vergessen, dass er überhaupt ein Mensch gewesen ist. Unter seinem menschenverachtenden Einfluß hat sich die Politik der demokratischen Staaten weltweit verändert: Die Hardliner, die Schein-Demokraten, Überwacher und Daten-Mißbraucher haben seit Bin Laden Hochkonjunktur. In Amerika setzt das Ministerium für Heimatschutz demokratische Mechanismen außer Kaft, in Deutschland freuen sich bekennende Christen über die Ermordung eines mutmaßlichen Verbrechers, der vor ein Gericht gehört hätte. Die Botschaft Osama Bin Ladens ist wie ein Virus, das man nicht mehr los wird. Hitler, Lecter, Bin Laden: Wer ist nun schrecklicher, wer realer? Es kommt immer darauf an, wie stark die Hass-Botschaft ist und wie sie psycho-kulturell in ein Volk eingedrungen ist. Tot zu sein, heißt jedenfalls nicht, keinen Einfluß mehr zu haben. Im Gegenteil.