Joe Biden hat genügend Wahlmänner auf seiner Seite, um zum 46. amerikanischen Präsidenten gewählt zu werden – aber wird er es auch? Oder wird er Opfer all der Tricks von Lying Don‘? Und wird der das Tafelsilber des Weißen Hauses mitgehen lassen, wenn er rausgetragen wird? Man kann es nicht wissen. Wir werden aber die Zeiten vermissen, in denen die tägliche internationale Berichterstattung über Trump wirkte wie surrealer Irrwitz.

Vier Jahre lang, seit den Vorwahlen, der US-Präsidentschaftswahl in 2016 und der Amtseinführung von Trump im Januar 2017 konnte man in täglichen oder wöchentlichen Intervallen Analysen und Interpretationen lesen, die das Phänomen „Trump“ entschlüsseln und erklären wollten. Dabei stießen die Trump-Interpreten auf immer neue Ansatzpunkte, warum er in Amerika so viele Wähler auf seine Seite ziehen konnte. Betrachtet man all die verschiedenen Erklärungsversuche lassen sich zwei übergeordnete Analysen voneinander trennen:

  1. Trump als Folge der gesellschaftspolitischen Entwicklungen und
  2. Trump als Ursache beängstigender gesellschaftspolitischer Folgen.

Trump als Zwangsläufigkeit und Folge

Die Wahl von Donald Trump sei nicht von ungefähr gekommen, ist Ergebnis des ersten der beiden Analyseansätze. Er sei nicht Ursache sondern als Folge diverser Entwicklungen zu verstehen. Bei diesem Ansatz wurden die Vorbedingungen und Gegebenheiten in den USA benannt, etwa

  • der strukturelle Rassismus,
  • das Auseinanderklaffen der ökonomischen Schere,
  • das Ausbluten Amerikas als industrieller Produktionsstandort und
  • der damit einhergehende Wegfall von Arbeitsplätzen.

Auch der Umstand, dass das bisherige Zwei-Parteien-System keine Problemlösungs-Alternativen mehr bieten konnte, wird mancherorts ins Feld geführt. Demnach wäre Trump als einzige richtige Alternative zu allen anderen Politikern zu sehen. Dann wäre er 2016 von manchem nicht unbedingt wegen seines Auftretens oder seines Programms gewählt worden, sondern weil er die einzige klare Alternative gewesen wäre. Jene Analysen also, die Trump als Folgeerscheinungen eines verkommenen Parteiensystems ansehen, wollen erklären, warum eine ehemalige Vorzeige-Demokratie einen Demokratiehasser 2016 als Präsidenten gewählt hat und sein bisheriges Handeln gutheißt.

Trump als demokratiefeindlicher Verursacher

Andererseits wird Donald Trump von manchen Kommentatoren als Ursache der weiteren Entwicklungen benannt. Zwar ist er nicht in einem politischen Vakuum entstanden aber erst der Mensch Trump mit seinen persönlichen Besonderheiten und radikal-autoritären Einstellungen hat das auf die Spitze getrieben, was für manche Amerikaner in der Luft lag. Politik vollzieht sich in Wellenbewegungen zwischen Kooperation und Konfrontation. Der vorherige Präsident Barack Obama war ein kooperativer Präsident, Donald Trump aber hat die politische Konfrontation weiter befeuert. Dabei richteten sich seine Anstrengungen nicht nur gegen Personen sondern auch gegen Institutionen wie die Geheimdienste oder gegen die Demokratie selbst. Eine konfrontative Herangehensweise mündet in eine Zuspitzung. Donald Trump lieferte sich Scharmützel mit der Presse, indem er seine Meinung zur absoluten Wahrheit erklärte, verunglimpfte die Justiz und torpedierte bei seiner Wahl 2016 und nun wieder den Wahlprozess.

Silvio Berlusconi und Donald Trump

Dass die USA gespalten sind und letztlich nicht wenige Bürger Donald Trump gewählt haben, kann auf sehr unterschiedliche Weise gedeutet werden. In Zeiten von Verunsicherung durch politischen und wirtschaftlichen Niedergang ist der Wunsch nach einem starken Führer übermächtig. Dass der sich als Tabubrecher sehr viel herausnehmen kann, hat Donald Trump nicht zuletzt vom Italiener Silvio Berlusconi gelernt, der ebenfalls Unternehmer ist und es schaffte, mit Unterbrechungen zwischen 1994 und 2011 viermal italienischer Ministerpräsident zu werden. So wie Trumps Art, Politik zu betreiben als „Trumpismus“ bezeichnet wird, wurde der politische Stil von Silvio Berlusconi „Berlusconismus“ genannt. Beides bezeichnet eine hemmungslos populistische Ausrichtung, die demokratische Traditionen und Umgangsformen negiert und mit geläufigen Tabus bricht. Über allem steht, dass kein gesellschaftlicher Konsens mehr angestrebt wird, sondern politischer Eigennutz.

Politische Effizienz und Symbolpolitik

Auch Berlusconi hatte wie Trump ein narzisstisches Selbstbewusstsein, das unter Ausblendung der Welt die eigene Befindlichkeit in den Mittelpunkt des politischen Handelns stellte. Beide waren geschickt darin, ihre Botschaften zwischen Witz und Aggressivität klar, einfach und unterhaltsam für jeden verständlich zu kommunizieren. Vor allem aber verkörpern beide das, was ein geschundener Bürger hören und sehen will: Jemanden, der Zuversicht und Selbstvertrauen ausstrahlt, sich gegen Etabliertes stemmt und scheinbar die Probleme lösen kann. Das hat weniger damit zu tun, was etwa Trump tatsächlich geleistet hat und mehr damit, wie das, was er tut, erscheint. Dies war überdeutlich beim Corona-Paradoxon zu sehen: Obwohl Trump untätig und überfordert war und Ende Oktober 2020 offiziell etwa 230.000 Menschen an Covid 19 gestorben waren, hat ihm das nicht entscheidend geschadet. Bei der Präsidentschaftswahl entfielen bisher (8.11.2020, 17:30 MEZ) auf den

  • Demokraten Joe Biden 279 Wahlmänner (270 waren für die Wahl zum Präsidenten nötig)
  • Republikaner Donald Trump 214 Wahlmänner

Trump ist nicht erdrutschartig geschlagen. In manchen Staaten waren die Unterschiede in den Wahl-Ergebnissen denkbar knapp.

Politische Zeichen setzen

Trump hat vielerorts effizient gewirkt, etwa bei seiner Zielerfüllung, die konservative Richterschaft in Amerika auszubauen, andererseits hat er Symbolpolitik betrieben. Die Mauer zu Mexiko etwa oder der Handelskrieg mit China waren gut dafür, politische Zeichen zu setzen. Die hohe Beschäftigungsquote in den USA unter Trump täuscht darüber hinweg, dass sie teuer erkauft ist. Trump hat Amerika durch seine Steuersenkungen, Subventionen der heimischen Wirtschaft, die durch den Handelskrieg nötig geworden sind oder die Militärausgaben auf einen neuen astronomischen Höchststand gebracht. Im Oktober 2019 betrug die US-Staatsverschuldung 16,8 Billionen US-Dollar.

Trump, der Anti-Politiker

Vieles, was Trump ist und war, und vieles, was ihn als Nicht-Politiker im höchsten amerikanischen Amt ermöglicht hat, ist nicht neu und mit einer tiefgreifenden Verunsicherung der Wähler zu erklären. Eine Verunsicherung, die nicht nur Amerika betrifft, sondern die vielerorts auf der Welt wirkt, vor allem was den wirtschaftlichen Niedergang und die damit einhergehenden düsteren Überlebens- und Wohlstandsaussichten anbelangt. Wenn etablierte Parteien Probleme nicht mehr lösen können, muss anderes Personal her, mit einem anderen Ansatz und neuer Selbstsicherheit. Dann ist ein Quereinsteiger, der das alte System bekämpft, für die eine Hälfte Amerikas höchst willkommen.

Trump und die Fake-Politik

Dann zählt nur noch das Ergebnis. Wie der Gewählte dort hinkommt, ob mit Lügen innerhalb eines Systems der alternativen Realität, ist dann für viele Wähler bezüglich seines Wirkens kein Ausschlusskriterium mehr. Der Wähler will den Eindruck haben, dass schnell etwas passiert, und Trump hat diesen Eindruck erweckt, zum Teil aber auch tatsächlich eingelöst, was er seinen Zielgruppen versprochen hatte. Etwa bei seiner Nahostpolitik, seiner Nicht-Kriegsführung, der Eindämmung der Zuwanderung, seinem Wirken gegen diverse sexuelle Orientierungen oder die Abtreibung. Letzteres hat ihn hoch im Kurs fundamentalistischer Evangelikaler und anderer Glaubensgemeinschaften stehen lassen.

Politische Klarheit versus Wahrheit

Je länger man über Trump nachdenkt, desto mehr häuft man sein Wissen über all die Zielgruppen an, die er politisch bedient hat und desto mehr verfängt man sich in einem Gewirr an Einflüssen, die den sehr unwahrscheinlichen 45. amerikanischen Präsidenten ermöglicht hatten. Das öffnet Tür und Tor für unterschiedlichste Interpretationen der Situation und des Kandidaten. Was mag das Wesentliche gewesen sein an Trumps Präsidentschaft? Vermutlich brauchen schwierige Zeiten besondere Klarheit. „Klarheit“ ist im Zusammenspiel zwischen Politik und Bevölkerung aber nicht mit „Wahrheit“ oder „Ehrlichkeit“ zu verwechseln. Ein Kandidat in diesen Zeiten muss intuitiv erfassen, was seine Wähler umtreibt und dem eine Stimme geben.

Donald Trump als Symbolfigur

Trump hat dem grassierenden Hass und der Angst der weißen Amerikaner vor dem wirtschaftlichen Niedergang, vor der vermeintlichen Entfremdung von der eigenen Kultur durch die Colored People und den Islam einen Ausdruck gegeben und dies in sein Handeln umgemünzt. Dabei hat er über den konkreten Anlass hinaus symbolisch geredet und auch symbolisch gehandelt und ist dadurch selbst zur Symbolfigur geworden. Auch mit China als Wirtschaftsfeind oder mit Mexiko als „Drogen- und Vergewaltiger-Staat“, als den er ihn verleumdet hat, schien er alles bekämpfen zu wollen, was nicht rein weiß amerikanisch ist. Das war Trumps Art der Klärung der Ansprüche seiner Wählerschaft. So hat er nahegelegt – und das war der Subtext seines aus vergangenen Zeiten entlehnten Slogans „Make Amerika great again“ – dass ein weißes Amerika gleichzeitig ein sicheres Amerika werden wird. Die Corona-Pandemie zu leugnen, mißliebige nationale oder internationale Akteure zu verunglimpfen, den Klimawandel zu verneinen oder zu relativieren, Umweltschutzbestimmungen außer Kraft zu setzen – all dies ist gekennzeichnet von einer großen Simplitizität und Klarheit. Komplexität wird reduziert, Probleme werden gesundgeschrumpft auf einen imaginären Kern. Und der Wähler dankt es, weil nun die Welt wieder handhabbar erscheint.

Populismus und Vereinfachung

Alle Populisten sind Welterklärer der Einfachheit. Mal reden sie Probleme klein, blenden sie komplett aus oder präsentieren einfachste Lösungen dafür: eine Mauer hier, ein Einreiseverbot dort, eine Steuersenkung für das Erstarken der Wirtschaft. Das sind Zutaten für die Konstruktion eines einfachen Weltbildes, in dem man selbst das Opfer dunkler Mächte ist und QAnon Rettung bringt. All dies hat die Tonalität einer märchenhaften Erzählung, in der zunächst alles schlimm ist, bis der Erlöser kommt und alle errettet. Nicht zuletzt in Verschwörungserzählungen spiegelt sich die Angst in den Herzen seiner Befürworter.

Trump als Teppichverkäufer

Trump, der so viel in der amerikanischen Politik zerstört hat, hat seine Wählerschaft mit dem Narrativ von der Einfachheit der Welt, in der wir leben können, wenn wir ihn nur wählen wollen, beglückt. 2016 wurde er als eine Art politisches Heilpflaster gewählt, das erst all die Probleme herausbrüllt und so einen reinigenden Prozess initiiert und sich dann in größtmöglicher Einfachheit, an die sehnsuchtsvolle Seele der Konservativen und Rechtsradikalen schmiegt. „Alles wird gut“, ist die Botschaft. „Zerbrecht euch nicht den Kopf, bald sind die Probleme, die euch Sorgen bereiten, gelöst.“ Amerika soll wieder rein weiß und christlich werden, versehen mit einigen wenigen Farbtupfern, die verkraftbar sind. Diese Botschaft ist für die Trumpsche Zielgruppe heilsam. Donald Trump wurde damit ein amerikanischer Präsident, der wie ein Teppichverkäufer immer aufs neue erzählt hat, dass der amerikanische Wähler in ihm als Marken-Präsidenten ein großartiges Produkt gewählt hat, das scheinbar günstig zu haben ist. Dieser Präsident hat die Welt wie vor ihm Ronald Reagan oder George W. Bush noch weiter als diese in Gut und Böse unterteilt und sie damit in Appetithappen unterteilt, die verdaulich sind. Denn auch Feindbilder können als Orientierungspunkte beglückend sein. Kein anderer Präsident hat die Welt so sehr vereinfacht wie Donald Trump.

Trump als Hoffnungsträger

Für nicht wenige Amerikaner war dies eine Erholung, eine innere Reinigung und ein Grund, wieder Hoffnung zu schöpfen. Dass diese weltanschuliche Einfachheit erkauft wurde durch ein von Trump errichtetes irrwitziges Lügengebäude, war da zweitrangig wie alles andere: die Sado-Maso-Kommunikation, in der Unliebsame regelmäßig mit abschätzigen Spitznamen bedacht werden, der Verbalfaschismus, der keine Minderheit ungeschoren gelassen hat und die konfrontative Herangehensweise, die jede fruchtbare Kooperation ausgeschlossen hat. All dies war Teil eines Reinigungsprozesses, dessen Ziel Abstraktion von der Komplexität gesellschaftspolitischer Wirklichkeit ist.

Trump als Simplisissimus

Komplexe, problembehaftete Zeiten, in denen politische Systeme gealtert sind und sich zum Teil verrannt haben, verlangen nach Vereinfachung. Politiker, die denken, dass die umfassende Darstellung von Sachverhalten das richtige Mittel ist, täuschen sich. Vereinfachung ist wohltuend. Sie kann sogar völlig falsch sein, Hauptsache ihre Botschaft ist: „Alles wird gut“. Die Trumpismus-Variante dieser Aussage ist ein aggressives Herausschreien und Abqualifizieren, ein Leugnen der Wirklichkeit innerhalb eines autoritär-patriarchalen Weltbildes, das durch ein Gegeneinander, nicht durch ein Miteinander bestimmt ist. Auch dieses Retro-Weltbild, in dem es ein klares Oben und Unten, ein Richtig und Flasch und natürlich auch ein Gut und Böse gibt, wirkt auf den Trump-Liebenden positiv. Konfrontation ist Unmittelbarkeit, kompromissbeförderte Kooperation ist schwierig und bringt kurzfristig weniger Ergebnisse. Vor allem muss der Kooperationswillige seine Gefühle zurückdrängen und seine Vernunft wirken lassen. Das erscheint in hassgefluteten Zeiten vielen Trumpwählern zu aufwändig.